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Innenpolitische Flurbereinigung

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Westeuropa wird zur Zeit von einer eigenartigen Krankheit befallen. Sie nennt sich „Wahlfieber“. Italien ging mit gutem Beispiel voran; in der Bundesrepublik beschäftigen sich sowohl Brandt wie Barzel mit der Frage, noch in diesem Jahr die Wähler als Schiedsrichter aufzurufen.

Frankreich sollte — gemäß Gesetz — erst im März 1973 die Urnen öffnen. Aber seit Wochen dreht sich in Paris ebenfalls ein Wahlkarussell. Die politische Elite, von rechts bis links, blickt wie hypnotisiert auf den Elysee-Palast. Wird Präsident Pom-pidou die Kammer auflösen und im Herbst die Bürger gleichfalls auffordern, ihren staatspolitischen Pflichten nachzukommen? An der Seine gilt es so gut wie sicher, daß die Verhältnisse in Bonn keinen anderen Ausweg als den der Entscheidung in der offenen Feldschlacht einer Bundestagswahl zulassen. Nachdem in Rom die parteipolitischen Kräfteverhältnisse für die nächsten Jahre abgeklärt wurden, glauben die französischen Politiker an die Logik einer europäischen, gleichlaufenden Entwicklung. In dem gegenwärtigen Klima der Fünften Republik könnten — so wird argumentiert — keine vernünftigen und konstruktiven parlamentarischen Maßnahmen eingeplant werden.

Ministerpräsident Chaban-Delmas erhielt am 23. Mai ein massives Vertrauensvotum der Mehrheit. Man durfte für kurze Zeit annehmen, der Regierungschef könne sich auf eine gefestigte Majorität stützen, sich mit dem Budgetentwurf befassen und die von ihm so geliebte „neue Gesellschaft“ aktivieren. Dank seiner gestärkten Position würde er, nach Meinung seiner Berater und Freunde, den gefährlichsten Felsen der ausgehenden Legislaturperiode umschiffen, nämlich die Reform des staatlichen Fernsehens. Entgegen diesen optimistischen Erwartungen geht das Nachfolge-Chaban-Delmas-Spiel lustig weiter. Mag der Regierungschef in der öffentlichen Meinung ein bißchen an Autorität gewonnen haben — die Kluft ist kaum zu überbrücken, die ihn von seiner Fraktion trennt. Dazu kommen spürbare Spannungen zwischen dem Elysee- und dem Matignon-Palast. Pompidou beeinflußt direkt die Restrukturierung der ORTF. Er beauftragte einen Mann seines Vertrauens mit dieser

Ausarbeitung. Uberraschenderweise wurde der profilierteste Gegenspieler von Chaban-Delmas, der kluge und wendige Exministerpräsident Edgar Faure, zum Generalberichterstatter des Parlaments in Fragen Rundfunk und Fernsehen ernannt. Edgar Faure begann vor eineinhalb Jahren, eine Gruppe ergebener Abgeordneter um sich zu sammeln und bietet ein gemäßigt liberales Sozialprogramm an, das sich am ehesten mit dem vorsichtigen Konzept des Staatsoberhaupts identifiziert.

Das Parlament in der aktuellen Zusammensetzung entspricht nicht den politischen Reflexen der Nation. Allerdings wäre es vermessen, eine Prognose zu wagen und eine neue Achse der Mehrheit zu verkünden. Viele Elemente liegen wie hinter einem Schleier. Sie werden in einem Wahlkampf, beziehungsweise in den Ergebnissen des Urnengangs transparent. Der für das Regime wichtige Berufszweig der kleinen Kaufleute und Gewerbetreibenden frondiert gegen die Regierung. Dabei handelt es sich um ungefähr zwei Millionen wahlberechtigter Bürger, die bisher keine parteipolitische Referenz gezeigt haben. Die unabhängigen Republikaner Giscard d'Estaings bemühen sich mit allen Mitteln, dieses Reservoir auszuschöpfen und ihre liberale Partei der technischen Kader in eine Volkspartei umzumodel-lieren. Der Finanzminister versprach zwar; bis Oktober keine innenpolitischen Optionen zu ergreifen, seine Leutnants proklamieren jedoch den Willen der zweitstärksten Parlamentsfraktion, die bisherige innenpolitische Paralyse zu beseitigen und an die Nation zu appellieren.

In europäischen Belangen sind die Grundsätze des Finanzministers und des Bürgermeisters von Rouen, Lecanuet, kongruent. Natürlich plädiert auch der Vorsitzende des außenpolitischen Auschusses im

Senat für einen möglichst frühen Wahltermin. Die Zentrums-Leute spekulieren mit den fünf Millionen Stimmen, die 1969 ihr Repräsentant Poher gegen Pompidou verzeichnen konnte. Eine größere Abwanderung aus dem Lager der gaullistischen Sammelpartei käme in erster Linie den Liberalen und den Nachfolgern des MRP zugute.

Da die Fünfte Republik in den geplanten europäischen Gipfelkonferenzen richtungweisende außenpolitische Orientierungen zu treffen hat, drängen dynamische Elemente der momentanen Mehrheit auf eine vorherige innenpolitische Flurbereinigung.

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