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Digital In Arbeit

„Was kümmert mich das?“

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„Sie wollen mich also befragen und möchten wissen, was ich am Ende dieses Jahres denke, wie ich lebe, welche Hoffnungen ich hege, mit welchen Befürchtungen ich mich beschäftige? Sie sind wirklich neugierig. Der einfache Pariser ist verschlossen, wenig umgänglich und möchte in diesen finsteren Dezembertagen an nichts denken. Wir haben es aufgegeben, Gäste zu empfangen. Ich vermeide es, wie in früheren Jahren, nach der Arbeit im Bistro mit meinen Kollegen den Aperitif zu schlürfen. Was sollten wir miteinander besprechen? Jeder von uns weiß, wie die Preise steigen. Alle Rechenkünste unseres Finanzministers Giscard d'Estaing können meine Gattin nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir zum Essen 18 bis 20 Prozent mehr ausgeben als im Jahr 1970. Die Technokraten der Rue de Rivoli erklären zwar stolz im Fernsehen, die Behörden hätten die Preise im Griff, aber niemand will es glauben.

Ich verdiene als mittlerer kaufmännischer Angestellter monatlich 2800 F. Für die Wohnung geben wir an Miete, Beheizung und Beleuchtung rund 1000 F aus. Wir haben verschiedene Anschaffungen gemacht, unter anderem ein Auto und eine Waschmaschine. Die Wechsel müssen regelmäßig eingelöst werden. Dafür geben wir 300 bis 400 F aus. Überlegen Sie, wie wir am Sonntag den üblichen Stfiafsbraten auf den Tisch stellen sollen! Ich bin gewerkschaftlich organisiert und gehöre der CFDT an. Die CFDT war früher christlich, jetzt steht sie Ultralinks. Der neue Gewerkschaftschef Edmond Maire redet ununterbrochen von Klassenkampf, Sozialismus und einer besseren Gesellschaftsordnung. Diese soll brüderlicher sein als unsere jetzige bürgerlich-kapitalistische. Aber ich weiß mit diesen Prophezeiungen wenig anzufangen. Ihr Ausländer meint, wir Franzosen liebten die Revolution und strebten ständig Reformen des täglichen Lebens an. Ihr irrt euch gewaltig.

Unser Ziel ist es, in den gewohnten Traditionen unsere Kinder aufzuziehen, den Urlaub zu genießen und mit den Behörden möglichst wenig Kontakt zu pflegen. Der Staat und seine Ämter dringen in unser ziviles Dasein ein. Sie reglementieren, befehlen, und selbst ein einfacher Weg in das Büro der Sozialversicherung steigt zu einem Problem auf. Sie können noch soviel Unterlagen und Papiere mitschleppen, ein Dokument fehlt immer. Der Ministerpräsident Chaban-Delmas hat allerdings vor zwei Jahren die „Neue Gesellschaft“ verkündet und versprochen, daß die Beziehungen zwischen den Behörden und dem Staatsbürger menschlicher gestaltet würden. Aber selbst der Ministerpräsident spricht in den seltensten Fällen von der neuen Gesellschaft. Wir sehen nur, wie sehr die Steuerschraube angezogen wird. Freilich, die Großen dieser Welt machen es sich bequem. Die laden den Steuerinspektor ihres Bezirkes zu pompösen Festen ein. Dieser darf auf Jagden gehen und schläft gelegentlich auf einer Luxusjacht in Cannes. Natürlich arrangiert er den Herren das Steuerbekenntnis. Mag gelegentlich ein solcher Fall auffliegen, findet er milde Richter. Wer reich ist, kann sich in unserem Lande gut verteidigen; wer arm ist, wird von den Polizisten und Staatsanwälten geduzt und wandert unweigerlich ins Kittchen.

Mit Sehnsucht denke ich an den alten General zurück. Er hat wirklich Ordnung geschaffen. Unter seiner Herrschaft gab es keine politischen und Finanzskandale. Jetzt hört man fast jede Woche von einer solchen Affäre. Niemand weiß, was dahintersteckt.

Selbstverständlich ist unser Staatsoberhaupt ein ehrenwerter Mann. Wir bewundern ihn sehr. Er spricht unsere Sprache. Wir müssen nicht ständig an die Größe Frankreichs denken, wie es General de Gaulle verlangte.

Unser Parlament scheint kaum fähig zu sein, die verschiedenen Ämter und Regierungsstellen zu kontrollieren. Ich wünsche mir keine Änderung des Regimes, aber ich hoffe insgeheim auf eine Neudeflnie-rung der Mehrheit. Man sagt, wir Franzosen stünden alle links. Diese Meinung ist vollkommen falsch. Wir gehören politisch zur Mitte, waren die Mitte und werden es immer sein. Zu Beginn der Fünften Republik wählte ich selbstverständlich gaullistisch. Seitdem der General in Colombey-les-deux-Eglises ruht, bin ich politisch heimatlos geworden. Mitterrand und seine Sozialisten versprechen ein vortreffliches Regierung sprogramm, Sicherung der Arbeitsplätze und eine Ablösung des ungerechten kapitalistischen Systems; die Macht im Staate Hege zu sehr in den Händen der Großbanken und der internationalen Konzerne. Sie manipulierten die

Währung und beeinflußten die Verwaltung. Aber Mitterrand flirtet mit den Kommunisten. Wir lehnen jede Art von Volksfront ab. Der Generalsekretär Marchais hat wohl im Falle eines Sieges seiner kommunistischen Partei die Pluralität der politischen Demokratie akzeptiert. Allerdings war er eindeutig. „Sobald wir an die Macht gekommen sind, werden die Wähler so glücklich sein, daß sie uns niemals durch eine bürgerliche Koalition ersetzen werden.“ Das Experiment dürfte gefährlich sein. Wir fangen am besten gar nicht damit an. Was man aus der Tschechoslowakei und der Sowjetunion hört, klingt keineswegs beruhigend. Sagen Sie mir, für welche Partei soll ich mich erwärmen? Manchmal denke ich an JJ-SS. Dieser Mann stinkt jedoch zu sehr nach Geld und rudert zu offen, um sich eine beherrschende Position zu sichern. Am besten wäre es gewesen, Senatspräsident Poher hätte eine Partei gegründet. Dem wären wir vielleicht gefolgt. Jetzt gehört er zur etablierten Gesellschaft. Vielleicht wird etwas aus der Reformbewegung. Bei den letzten Nachwahlen im Dezember hat sie beachtliche Erfolge erzielt. Aber werden sich die beiden Herren Servan-Schreiber und Leca-nuet auf die Dauer verstehen?

Wir sprechen zu Hause wenig über Politik, ärgern uns oft hinsichtlich des Fernsehprogramms und besprechen lediglich ein Problem. Behalte ich im nächsten Jahr meinen Posten? Jeden Tag werden hunderte, tausende von Arbeitern und Angestellten gekündigt. Dieses Gespenst vergiftet die Wochenenden. Jetzt sind es schon 500.000, die ohne Arbeit dastehen. Wird es wieder so wie in den dreißiger Jahren? Ich bin jetzt 42 Jahre alt. Wer bekommt nach dem 45. Lebensjahr eine angemessene Position? Mit 45 kannst du ruhig sterben! Niemand will einen dann haben.

In den Abendnachrichten wird vom Nahen Osten, von Indien und Pakistan gesprochen. Was kümmert mich das! Ich möchte in Ruhe leben, arbeiten und bin vollkommen mit den Gewerkschaften einverstanden, welche die Pension ab dem 60. Lebensjahr fordern. Nur keine Anarchie, kein Abenteuer, keine politischen Unruhen ...!“

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