6774637-1969_17_08.jpg
Digital In Arbeit

Die Revolte der Kaufleute

Werbung
Werbung
Werbung

In La Tour du Pin stürmten kürzlich 4000 wütende Kaufleute das Steueramt und schleuderten die Akten auf die Straße. Sie beschlagnahimten zwei Tonnen Unterlagen, die nach Worten der Führer des Aufstandes als „Geiseln“ gedacht sind, um mit den Behörden verhandeln au können.

Im Hertost 1967 hatten die Bauern revoltiert, dm Mai/Juni 1968 waren es die Studenten, welche die Reformgesetze Edgard Faures erzwangen. Die Gewerkschaften hatten in ihren historischen Streikwellen die damalige Regierung Pompidou so unter Druck gesetzt, daß sich diese genötigt sah, die Verträge von Grenelle zu unterzeichnen. Diese brachten der Arbeiterschaft immerhin gewisse substanzielle Erfolge. Auf dem Höhepunkt der Diskussion um das Referendum setzte sich der kleine Mittelstand in Bewegung und forderte ebenfalls für seine schwierige Lage Verständnis in Ministerien und Verwaltungen. Schon am 5. März 1969 hatten fast sämtliche Kaufleute, Friseure, Gasthäuser, Tabakläden, Bäcker geschlossen und folgten dem Ruf der Organisation kleiner und mittlerer Betriebe (PME), die als Gewerkschaft des Kleinmittelstandes fungiert. Wie bei den Studenten und Gewerkschaften hatoen sich auch in diese Standesvertretung unkontrollierbare Linkselemente eingeschlichen, die nicht gewollt sind; die konziliante Vetrhandlungstäktiik des Präsidenten Leon Gingembre anzuerkennen. Der Anführer des Sturmes auf das Steueramt, Nicoud, glaubt sich mit seinen 23 Jahren befähigt, die zwei Millionen selbständigen Kaufleute und Besitzer von Kleinbetrieben zu revolutionieren. Bezeichnenderweise war der jungrevolutionäre Nicoud noch vor einigen Monaten Student. Betrachtet man die Physiognomie der übrigen Chefs dieser Insurrektion, kann man fast annehmen, sie seien direkt aus dem Quartier Latin importiert worden.

Die Revolte der selbständigen Kaufleute in Frankreich schwelte seit Monaten, ja seit Jahren. Sie knüpft an ein klassisches Vorbild an. In den Jahren 1954/55 hatte ein Papierhändler aus Saint-Cere in der Not eine Bewegung selbständiger Kaufleute gegründet, der es gelungen war, mehr als 50 Abgeordnete in das Parlament zu entsenden. Pierre Poujade und seine Anhänger verprügelten schon damals die Steuereinnehmer, gebärdeten sich fremdenfeindlich und nationalistisch. Pierre Poujade ist nach der klassischen Formel weder verwandt noch identisch mit dem gegenwärtigen Generalsekretär der gaullistischen Sammelpartei UDV, Robert Poujade. In diesen Jahren prägte General de Gaulle in der Einsamkeit von Colornbey-les-deux-Eglises das abfällige Urteil: „Zu meiner Zeit stimmte der Geißler für den Notar. Heute wählt der Notar den Greißler.“

Dieser Greißler steigt nun auf die Barrikaden. Er ist zomig und fürchtet um seine materielle Zukunft. Der selbständige Kaufmann war eine feststehende Einrichtung der Landgemeinden und der traditionellen Bezirke in den Großstädten. Immer nachdrücklicher empfindet er die Konkurrenz der Selbstbedienungsläden und der Supermärkte. 1957 gab es in ganz Frankreich einen einzigen Supermarkt, 1967 bereits 821 und nach den Voraussichten des V. Plans werden 1970 1600 bestehen. Die Quadratmeteranzahl einer dieser Supermärkte beträgt oft bis zu 700 Quadratmeter. Es ist selbstverständlich, daß diese Verkaufsstätten vorteilhaftere Einkaufsmöglichkeiten bieten, als ein bescheidener Familienbetrieb, der an einen aufgeblähten Zwischenhandel gebunden ist. Keiner Regierung der IV. oder V. Republik ist es gelungen, den Weg vom Produzenten, b*esonders landwirtschaftlicher Güter, zum Verbraucher in vernünftiger Form zu verbessern. Zusätzlich wurde der selbständige Kaufmann von anwachsenden steuerlichen Lasten erdrückt. Durch die Einführung der Mehrwertsteuer mußte er buchhalterische Operationen verschiedenster Natur durchführen, auf die er keineswegs vorbereitet ist und die er als Herausforderung empfindet. Der- Innenminister Marcellin kennt ein probates Mittel, um soziale Spannungen zu beseitigen. Man sperre einfach einige Anführer ein, und die Leute würden sich schließlich beruhigen. So wurde es bei den Studenten praktiziert, und auch der eifrige Nicoud genießt die Gastfreundschaft des Staates. Die Linkselemente jubeln. Je öfter die CRS die revoltierenden Kaufleute zusammenprügelt oder die Justiz einen kleinen Unternehmer für Wochen und Monate verhaftet, um so wirksamer ist es. Was die Studenten und Gewerkschaften erreichten, sollte auch den selbständigen Kaufleuten zugebilligt werden. Deshalb lautet die Forderung: Wir verlangen Verhandlungen und Verträge ä la Grenelle.

Am 16. April bekundeten die Kaufleute ihre Solidarität und schlössen teilweise oder ganz ihre Läden. Die Konsumenten wurden durch entsprechende Anschläge informiert, daß der Wirt und Friseur, der Fleisch-und Gemischtwarenhändler nicht mehr bereit seien, weitere steuerliche Belastungen zu ertragen. Die Regierung hat einige Gesten gewagt. So übernahm der Staat die Beitragszahlung der Pflichtversicherung von 160.000 Kaufleuten und Handwerkern, die ein Jahreseinkommen unter 4600 Francs jährlich nachweisen. Die Betroffenen bezeichnen diese Maßnahmen als lächerlich und bekämpfen die gegenwärtige Form der Pflichtsozialversicherung. Der Finanzminister zeigte sich bisher kaum geneigt, in den Steuerfragen den Selbständigen entgegen zu kommen. Er schlug lediglich eine Vereinfachung der Mehrwertsteuerabrechnung vor.

Die selbständigen Kaufleute und Handwerker machen ungefähr fünf Prozent der aktiven Bevölkerung aus. Sie haben ein Jahrzehnt das gaullistische Regime bedingungslos unterstützt und die „wilden Studenten“ der Maitage energisch verurteilt. Für sie zählte die Ordnung in Staat und Gesellschaft. Es mag eine Ironie des Schicksals sein, daß dieser an sich vernünftige Berufszweig dieselben Methode anwendet, die er im Mai/Juni 1968 verdammte.

Die gesellschaftspolitischen Mutierungen der V. Republik sind durch Ausbrüche verschiedenster Art gekennzeichnet, die das mühsame Gleichgewicht dieses Regimes in Frage stellen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung