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Storrische Gewerkschaften?

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Obgleich in den letzten Monaten die Höhe der“ Sterlingreserveh, die Möglichkeit eines Beitrittes Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und jüngst vielleicht noch die Auseinandersetzung um die Verstaatlichung der Stahlindustrie im Vordergrund des ausländischen Interesses gestanden haben, spielte abseits davon und spielt sich hinter den Kulissen ein Kampf innerhalb der Gewerkschaftsbewegung ab mit dem Ziel, den Zug in die wirtschaftliche Zukunft nicht zu versäumen. Der Ausgang dieses Kampfes könnte langfristig die Entwicklung der britischen Wirtschaft stärker beeinflussen als die Höhe der Währungsreserven.

Was und wer sind nun die britischen Gewerkschaften? Sind sie vielleicht in ähnlichem Maße wie manche amerikanische Gewerkschaften in den Händen von skrupellosen Gangstern? Blockieren sie den Fortschritt? Oder sind sie gar die unsichtbare Kraft hinter der gegenwärtigen sozialistischen Regierung?

Um das alles beantworten zu können, wird eine Rückschau auf den Werdegang der britischen Gewerkschaften nötig sein. Eine Feststellung sei jedoch vorweggenommen: Gangster konnten sie bisher noch nicht durchdringen, von Kontrolle gar nicht zu reden, und die Möglichkeit, daß es je so sein könnte, muß als sehr gering bezeichnet werden. Für einen Mr. Hoffa und seine dunklen Machenschaften ist kein Platz.

Die britischen Gewerkschaften, oder Trade Unions, sind die ältesten Europas. Sie mußten lange kämpfen, ehe der Zusammenschluß geduldet worden ist. Die Niederlage im großen Generalstreik von 1926 bedeutete abermals einen Rückschlag: allgemein anerkannt werden sie erst seit dem zweiten Weltkrieg, in dem sie die Politik Winston Churchills nach Kräften unterstützt hatten. Aber die britischen Gewerkschaften zeichnet vor allen kontinentaleuropäischen Schwesterorgaaisationen aus, daß sie die Arbeiterpartei gründeten, daß sie vor der politischen Vertretung der Arbeiterinteressen im Parlament da waren. Diesen Umstand muß jederzeit im Auge haben, wer das Verhältnis der Gewerkschaften zur Labour Party betrachtet. Er erklärt nämlich zu einem großen Teil, die psychologischen Schwierigkeiten, welche innerhalb der Sozialisten hier überwunden werden müssen, ehe eine Reform der Gewerkschaften verwirklicht werden kann.

Ferner unterscheiden sich die Trade Unions von den österreichischen oder westdeutschen Gewerkschaften darin, daß sie Berufsgewerkschaften sind. Das ist am besten an einem Beispiel deutlich zu machen. Während die Arbeiter einer Automobilfabrik in der Bundesrepublik Deutschland oder in Österreich einer Gewerkschaft angehören, nämlich der Gewerkschaft der Metallarbeiter, ohne Rücksicht auf die tatsächliche Tätigkeit, sind sie in England Mitglied oft von 30 verschiedenen Gewerkschaften. Überdies verhandelt die Betriebsorganisation der jeweiligen Berufsgewerkschaft mit der Unternehmensleitung; Lohntarife werden auch nicht, wie in Österreich etwa, von zwei Interessenverbänden ausgehandelt, sondern eben auf Betriebsebene.

Was dieser Sachverhalt in einem Industrieland bedeutet, geht aus vielen Beispielen hervor. Oft mußte ein Unternehmen mit 20.000 Arbeitern den Betrieb stillegen, weil bloß 50 oder 100 Arbeiter wegen Lohnforderungen streikten. So fielen 1965 in der britischen Autoindustrie etwa 800.000 Arbeitstage (Arbeiter mal Arbeitstage) aus, wobei Ende des Jahres 200.000 Arbeitskräfte „feierten“. Abgesehen von diesen fatalen Eigentümlichkeiten des britischen Systems ergeben sich andere Schwierigkeiten. So ist in vielen Betrieben die Lohnstruktur hoffnungslos durcheinander geraten, so daß von „Struktur“, von einer geordneten Beziehung der Teile zum Ganzen, überhaupt nicht mehr gesprochen werden kann. In einer Werkshalle können Arbeiter nebeneinander arbeiten, die mehr als ein Dutzend verschiedene Lohnsätze aufweisen. Die Akkordarbeiter verdienen oft um mehr als 40 Prozent mehr als die nach Stundentarif bezahlten Kräfte. In jeder Lohnrunde muß das Unternehmen außerdem mit jeder einzelnen Gewerkschaft sich einigen, wodurch wertvolle Zeit des Managements beansprucht wird, die es gewiß nutzbringender auf Gebieten der Unternehmenspolitik einsetzen könnte.

Die einzelnen Berufsgewerkschaften zusammen wählen den Trade Unions Council (TUC) oder das Gewerkschaftspräsidium. Dort hat der Generalsekretär die einflußreichste Stellung. Er vertritt die Gewerkschaften in Verhandlungen mit der Regierung oder mit dem Spitzengremium der Confederation of British Industries, über grundsätzliche Fragen der Wirtschaftspolitik, wie gegenwärtig über die Einkommenspolitik. Letztlich hängt er freilich von den Beschlüssen der Jahrestagung, ab, auf der die einzelnen Berufsgewerkschaften entsprechend ihrer Stärke vertreten sind. Ohne allzusehr in Details- zu gehen, d'e freilich manchmal faszinieren, sei noch festgehalten, daß einige Berufsgewerkschaften unter starkem kommunistischen Einfluß stehen; diese Gewerkschaften denken in erster Linie „politisch“. Für sie ist die Marktwirtschaft völlig korrupt, mit nur einem Zweck: den Arbeiter auszubeuten. Alle anderen Gewerkschaften bejahen grundsätzlich die Marktwirtschaft und sehen ihr Ziel ausschließlieh in der Sicherung eines möglichst hohen Einkommens für den Arbeiter. Darin ähneln die britischen sehr den nordamerikanischen Gewerkschaften. Von marxistischer Ideologie halten sie demnach nicht viel. So paradox es vielleicht klingen mag, aber in vielen innen-, außen- und wirtschaftspolitischen Fragen bilden die Vertreter der Gewerkschaften in der Arbeiterpartei den rechten Flügel. Es ist das Vorrecht der dem Mittelstand zugehörigen Intellektuellen, links zu stehen.

Obgleich die Gewerkschaften die Labour Party als ihren politischen Arm vor mehr als 60 Jahren gründeten, besteht keine Einheit. Die Partei hat sich verselbständigt. Kein Premierminister vor Harold Wilson hat den Gewerkschaften soviel Schläge erteilt. Seit zwei Jahren verfolgt das Kabinett eine zunehmend deflatorische Wirtschaftspolitik: die Zinssätze wurden drastisch erhöht, ein Dohnstopp verfügt und angekündigt, daß künftig der Spielraum der Gewerkschaften in der Lohnpolitik wesentlich eingeschränkt würde. Außerdem setzte die Regierung eine königliche Untersuchungskommission ein, welche Vorschläge zur Reform der Gewerkschaftsbewegung dem Parlament und der Öffentlichkeit unterbreiten soll. Um die zwei letzten Eingriffe der Regierung in die Autonomie der Trade Unions geht es letztlich gegenwärtig in England.

Während die einflußreiche Transportarbeitergewerkschaft unter Führung des früheren Ministers Frank Cousin alle Reformpläne bekämpft, die Bergarbeitergewerkschaft sie mehr oder weniger ausgesprochen ablehnt, sind die meisten anderen Gewerkschaften noch unentschlossen. George Woodcock, der gegenwärtige Generalsekretär des TUC, kommt der Regierung auf halbem Wege entgehen. In der Lohnfrage nimmt er einen marktwirtschaftlichen Standpunkt ein. Nach ihm zeichnet die Marktwirtschaft gerade der Umstand aus, daß sich die Faktoreinkommen, Lohn und Preis, frei auf den Märkten bilden. Jede Lenkung, und eine wirksame Einkommenspolitik müsse zwangsläufig in eine Lenkung münden, würde verhindern, daß die Wirtschaft ein Optimum erreiche. Außerdem ließe sich mit Hilfe der Einkommenspolitik eine strukturelle Umschichtung kaum bewerkstelligen. In der Lohnpolitik möge man daher die Sozialpartner den besten Weg selbst finden lassen. (Auch die Confederation of British Industries lehnt eine Einkommenspolitik grundsätzlich ab.) In der Frage der Reform versucht George Woodcock die Regierung zumindest unterschwellig zu unterstützen. Er weiß genau, in welchem Maße das britische System der Berufsgewerkschaften im Widerspruch zu der Massenproduktion steht und wie nötig eine Anpassung etwa an das westdeutsche System wünschenswert wäre. Aber die Engländer sind noch immer traditionell. Deshalb begegnet eine Reform zahlreichen emotionellen Widerständen. Denn die Berufsgewerkschaften sind ja nichts anderes als die Nachfolger der Zünfte, und die gab es schon im Mittelalter.

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