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Englands soziale Demokratie

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Einer der Hauptpunkte der Kritik an der Demokratie während des Krieges in England bestand darin, daß sie zu sehr „formale“ Demokratie sei. Positiv forderte diese Kritik vor allem die Fortbildung der politischen Demokratie in den wirtschaftlichen und sozialen Bereich hinein durch „Sozialreform“. Heute mehren sich in den Kreisen der Labour Party und der Gewerkschaften die Stimmen, die darauf hinwei- sen, daß die gegenwärtige Form der sozialistischen Planwirtschaft die Lösung einer unmittelbaren aktiven Mitverantwortung und Mitbestimmung des Arbeiters im Wirtschaftsleben nicht gebracht habe. Das Problem sei, wie eine vor kurzem aus dem Forschungsinstitut der Labour Party selbst kommende Schrift sagt, die Mitbestim- tnung der Arbeiter, Konsumenten und Bürger auf allen Stufen des Funktionierens der Sozialwirtschaft herbeizuführen in einer „aktiven Demokratie“. Wir würden sie lieber als „soziale Demokratie“ bezeichnen, durch die die „formal e“ Demokratie ihre Integrierung finden muß.

Es wäre indessen sehr zu verwundern, wenn sich England mit seiner tief eingewurzelten demokratischen Denkungsart nicht schon längst gedrängt gesehen hätte, Anfänge und Elemente einer solchen sozialen Demokratie zu entwickeln. Eine solche Entwicklung ging tatsächlich vor sich in der Ausbildung einer von kaum einem anderen Land erreichten weitgliedrigen Maschinerie zur kollektivvertraglichen Beilegung von Interessenkonflikten „der beiden Seiten der Industrie“, wie man hier gerne sagt. Hand in Hand damit ging eine reiche Entfaltung der beruflichen Organisation der Wirtschaft, deren Hauptträger die Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen der einzelnen Industriezweige sind. Neben den Landesorganisationen sind auch regionale und Distriktsorganisationen sehr häufig; dazu kommen, in Erstreckung der berufliehen Organisation nach unten noch die Einrichtungen für die Zusammenarbeit von Belegschaft und Betriebsleitung in den örtlichen Betrieben. Die Formen dieser Organisationen, ihrer Bildung und ihres Zusammenwirkens, besonders die Beteiligung der Gewerkschaften und der Betriebsobmänner, weist in den einzelnen Industrien und Werken große Verschiedenheiten auf. E er Aufbau der Organisation ist nach oben abgeschlossen durch den Gewerkschaftskongreß mit der Parallelorganisation auf seiten der Industrie. Für die Kollektivvertragsverhandlungen bestehen dreierlei Einrichtungen; ständige gemeinsame Ausschüsse; auf Sondervereinbarung, Gewohnheit oder Übung begründete Verhandlungsformen; gesetzlich festgelegte Verfahrensweisen zur Lohnfestsetzung in Gewerbezweigen, in denen Einrichtungen der vorhin genannten Art nicht bestehen. Immer handelt es sich dabei um Ausschüsse auf der Grundlage der Gleichberechtigung. Über alle Einzelheiten gibt ein vom Arbeitsministerium herausgegebenes Handbuch von 260 Seiten (Industrial Relations Handbook, 1944) Aufschluß, das durch seinen Umfang allein schon das umfassende Maß der in Frage stehenden Organisationen unid ihrer Funktionen erkennen läßt.

Das eben über da gleichberechtigte Zusammenwirken von Arbeitgeber und Arbeitnehmer Gesagte bezieht sich nur auf die eine der beiden Grundfunktionen einer sozialen Demokratie, die soziale. Auch nach der Seite der anderein dieser Grundfunktionen, der wirtschaftlichen, haben sich seit dem letzten Weltkrieg neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern entwickelt. Sie zerfallen in zwei Hauptgruppen: Ausschüsse mit allgemeinen Aufgaben und solche für die einzelnen Wirtschaftszweige. Zu den ersteren gehören der nationale wirtschaftliche Planungsausschuß, der nationale industrielle Produktionsrat, die regionalen Industrieausschüsse, die Distriktsausschüsse der Industrie. Alle diese Ausschüsse bestehen aus Vertretern der beiden Seiten der Industrie und der mit den Wirtschaftsfragen befaßten Ministerien oder staatlichen Verwaltungszweige. Ihre Funktionen bestehen in der Beratung der Regierung bei der Durchführung ihrer Wirtschaftspolitik und der Überwindung der dabei auftretenden Schwierigkeiten, beziehungsweise in den einzelnen Wirtschaftszweigen in der Förderung der Produktivität der industriellen Produktion, der besseren Ausnützung des regionalen und örtlichen Produktionspotentials. Weitere Ausschüsse befassen sich mit den gemeinsamen Interessen von Unternehmern und Arbeitern im Rahmen dieser Wirtschafts- und Produktionspolitik. Zu dieser ersten großen Gruppe von Ausschüssen treten als zweite die beratenden Ausschüsse für Sonderaufgaben, wie etwa für die Wirtschaftlichkeit im Gebrauch von Heizmaterial und Elektrizität, für die Arbeitseinweisung der schulentwachsenen Jugend (vertreten sind die Behörden, die Lehrerschaft, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer), für die Beschäftigung der Kriegsverletzten; dazu eine Reihe von Ausschüssen für die einzelnen Industrien, wie die für die Bauindustrie, die Baumaterialienindustrie, die Maschinenbauindustrie, die Eisen- und Stahlindustrie, die Schiffbauindustrie, die Landwirtschaft. Dabei wirken überall Unternehmer- und Arbeitervertreter zusammen. Über die Einzelheiten in diesem umspannenden Gefüge von Organen des Zusammenwirkens der beruflichen Organisationen in der Gestaltung und Kontrolle der Wirtschaftspolitik gibt gleichfalls eine kürzlich erschienene amtliche Schrift (Government and Industry, A Survey of Machinery for Consultation and Co-operation, 1948) Aufschluß.

Wenn man die Durchformung von Wirtschaft und Gesellschaft mit Einrichtungen zur Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten und zum Ausgleich gegensätzlicher Interessen dėr beiden Seiten der Industrie sowie zum Zusammenwirken beider in den allgemeinen Fragen der Wirtschaftspolitik und den Sonderfragen der einzelnen Wirtschaftszweige als berufständische Ordnung oder demokratischen Korporativismus bezeichnet, dann besitzt England nach dem Gesagten eines der fortentwickeltsten Systeme dieser Art. In England selbst wird allerdings praktisch kaum von berufständischer oder korporativer Ordnung gesprochen. Der korporative Gedanke ist durch den italienischen Faschismus für das englische Denken unheilbar diskreditiert, obwohl es neben dem faschistischen Korporativismus auch einen demokratischen gibt, genau so wie es neben der östlichen Demokratie auch die westliche gibt, und obwohl England selbst eine ganz große Tradition des demokratischen Korporativismus besitzt. Zufolge der Diskreditierung des Ausdruckes Korporativismus wird er auch von den englischen Katholiken im allgemeinen vermieden. Sie sprechen lieber von beruflicher Organisation. Namen sind indes belanglos und der politisch neutrale Ausdruck „soziale Demokratie“ scheint das Wesen der Sache nicht weniger genau zu treffen als die eben erörterten.

Daß England eine lange und starke Tradition der korporativen Durchgliederung der Gesellschaft besitzt, wird von allem ideologischen Richtungen gleicherweise betont. Als zum Beispiel Lord Keynes im Jahre 1926 seine Ideen einer Neuorganisation der modernen Gesellschaft nach korporativen Prinzipien entwickelte, wodurch der anarchistische Zustand der individualistischen Wirtschaft und Gesellschaft überwunden werden müßte, dachte er an.halbautonome Körperschaften mit weitgehenden Selbstverwaltungsaufgaben und führt aus: „Ich schlage somit sozusagen eine Rückkehr zu den mittelalterlichen Begriffen gesonderter Autonomien vor. In England sind allerdings Korporationen eine Art der Selbstverwaltung, die nie aüfhörte, eine wichtige Rolle zu spielen und die ganz im Einklang mit unserer Verfassung stehen“ (The End of Laissez-faire, 1926, S. 41 f.). Dabei wäre hinzuweisen auf das reich ausgebildete Organisationswesen im Bereich des englischen Handwerks und Gewerbes und der freien Berufe sowie auf die britischen Universitäten mit ihrer ganz freien Selbstverwaltung und völligen Unabhängigkeit vom Staate (zum Beispiel in der Ernennung von Professoren), ein Beispiel, das Keynes an der angegebenen Stell als besonders bezeichnend für die englische Auffassung erwähnt. Auf sozialistischer Seite fand, was manche überraschen wird, die Berufsgemeinschaft als Organisationsform von Gesellschaft und Wirtschaft kein geringeres Interesse. Niemand anderer als Sidney und Beatrice Webb arbeiteten in den Jahren 1915 bis 1917 an einer umfassenden Übersicht über di in England bestehenden Organisationsformen solcher Art, wovon allerdings nur der mit den akademischen Berufen und geistigen Arbeitern befaßte Teil veröffentlicht wurde; sogar der heute im Englischen für die berufständische Ordnung übliche Ausdruck (Vocational Organisation) stammt von ihnen. Die Webbs gehören bekanntlich zu den führenden Theoretikern des englischen Sozialismus, durch deren Schule ein. sehr großer Teil der heute in leitenden Positionen tätigen Sozialisten gegangen ist. In ihrem Buch: A Constitution for the Socialist Commonwealth of Great Britain (1920) machen sie die Selbstverwaltung der Be- rufsgemeinschaft geradezu zu einem grundlegenden Funktionsprinzip ihres sozialistischen Gemeinwesens. Ihr Sozialismus erlangt durch diese zentrale Stellung des beruflichen Selbstverwaltungsprinzips einen Charakter, der in gewolltem und betontem Gegensatz zur zentralistischen Planwirtschaft steht, allerdings ebenso entschieden eine demokratische Geschäftsführung abweist, wie sie der Gildensoaalismu daehte.

Es ist nicht ausgeschlossen, daß mit dem immer lauter werdenden Anspruch der Arbeiter auf ein Mitsprache- und Mitbestimmungsrecht in wirtschaftspolitischen Fragen der einzelnen Industrie und des Gesamtstaates der Gedanke der beruflichen Selbstverwaltung sich zunehmend Raum schafft und damit die demokratische Veranlagung des . Engländers den englischen Sozialismus in eine Richtung drängt, in der die Webbs in der eben angedeuteten Weise seine Zukunft sahen, also zu einer vollen Sinngebung der Demokratie in? Sozialen und Wirtschaftlichen als beruflicher Selbstverwaltung. Dies um so mehr, als der Engländer vor allem auf Erfahrung und Ausprobieren vertraut und sich wohl bewußt ist, daß in der Ausformung der Demokratie noch ungeheure Weiten von Neuland vor uns liegen. „Denn“, so schrieben die Webbs, „die Demokrat!? ist noch immer die groß? Unbekannte.“ Es ist nadi ihrer Meinung allerdings auch nicht zweifelhaft, daß diese große Unbekannte ihre wahre Sinnerfül- luog nur finden kann, wenn die Entwicklung geleitet ist von entschlossener Offenheit für die Wirklichkeit und einer von Ideologien unbehinderten Elastizität im Dienste der demokratischen Prinzipien.

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