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Die „englische Krankheit“

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Die britischen Gewerkschaften sorgen wieder für Schlagzeilen: mehr als viertausend Fahrer von Lastwagen und Tankzügen lähmen die Nahversorgung auf der Insel. Ein Ende ist vorerst noch nicht abzusehen, eher sogar eine Verschlimmerung, denn auch die Angestellten der britischen Eisenbahnen tragen sich mit der Absicht zu Kampfmaßnahmen.

Vereinzelt gab es auch bereits wilde Streiks in der Londoner Region. Die Positionen sind klar: Die Gewerkschaften verlangen eine zehnprozentige Lohnerhöhung, während die Regierungs Callaghan nach wie vor nicht bereit ist, Lohnerhöhungen, die die selbstgesteckte Fünf-Prozent-Grenze überschreiten, zu akzeptieren.

Rund 1,5 Millionen Angestellte aus den verschiedensten Bereichen (von

den Universitätsbediensteten bis zur Müllabfuhr) fordern ebenfalls respektable Lohnerhöhungen sowie die 35-Stunden-Woche und haben bereits für den 22, Jänner einen Warnstreik angekündigt.

Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß England derzeit von einer - wenn auch sehr schwachen - Labour-Regierung regiert wird, stellt sich erneut die Frage nach der „englischen Krankheit“: Wer regiert, die Regierung oder die Gewerkschaften?

Englands Gewerkschafter haben schon wiederholt bewiesen, daß es sehr schwer, wenn nicht sogar unmöglich ist, gegen sie zu regieren. Dies zeigte sich besonders deutlich, als die bislang letzte konservative Regierung unter Edward Heath von den Gewerkschaften zur Kapitulation gezwungen wurde. Nun hatten die Gewerkschaften, was sie wollten: eine Labour-Regierung, mit der man sich auf Grund der personellen und ideologischen Verbindungen leichter arrangieren konnte, als mit den Konservativen.

Bereits unter Premierminister Wilson zeigte sich jedoch das Spannungsverhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften: einerseits als Machtbeziehungsweise Prestigeanspruch, andererseits als volkswirtschaftliches Dilemma, da eben die Regierung - gleichgültig von welcher Partei sie gestellt wird - die Forderungen

der Gewerkschaften mit einem verantwortungsbewußten, stabilitätspolitischen Kurs in Einklang bringen muß.

Seit Callaghan an der Spitze der Regierung steht, sind die daraus resultierenden Konflikte nicht nur häufiger geworden, sie sind auch - in Form offener Konfrontation - zu Tage getreten. Eine Labour-Regierung können die Gewerkschaften zwar nicht zu Fall bringen (was sollte danach kommen?), sie können aber — wie sie es derzeit vorexerzieren -die Regierung unter Druck setzen.

Man kann durchaus annehmen, daß dabei auch die Hoffnung mitschwingt, den dem rechten Flügel der Labour-Party zugehörigen Callaghan loszuwerden und danach ein Kabinett nach dem Geschmack der Gewerkschaften zu bekommen. Daß diese Politik nicht überdreht werden darf, liegt auf der Hand. Nur so ist es zu erklären, daß Callaghan trotz wechselnder Mehrheiten im Parlament, starker innerparteilicher Widerstände, einem dementsprechen-den Autoritätsschwund und trotz einer Serie von Niederlagen im Unterhaus „bis auf Widerruf weiterregieren darf.

In dieser mißlichen Lage hat die Führerin der Opposition, Margaret Thatcher, in aller Öffentlichkeit die Flucht nach vorne angetreten. In einem ausehenerregenden Fernsehin-terview erklärte sie eindeutig, daß sie als Regierungschefin bereit wäre, mit den Gewerkschaften auf Konfrontationskurs zu gehen.

Stich ins Wespennest

Thatcher argumentiert grundsätzlich, indem sie die Legitimität der überproportionalen gewerkschaftlichen Einflußnahme in Frage stellt und - pragmatisch - konkrete Vorschläge zur Machtkontrolle der Gewerkschaften vorlegt. Ähnliche Vorstöße waren in der Vergangenheit von den Gewerkschaften bislang noch jedes Mal erfolgreich abgeblockt worden.

Thatcher hat damit in den ersten Wochen des Wahljahres 1979 in ein Wespennest gestochen. Man kann annehmen, daß sie dies nicht unüberlegt getan hat, denn auch in Großbritannien ist eine zunehmende Stimmung gegen den Gruppenegoismus der verschiedenen Gewerkschaften zu registrieren. Die Bevölkerung sieht in den permanenten Arbeitskonflikten nicht zuletzt auch das Haupthindernis für eine wirtschaftliche Konsolidierung des Landes.

Und hier zeigt sich letztlich auch die verwundbare Stelle der - zweifellos - starken englischen Gewerkschaften: der Verlust an Glaubwürdigkeit und Sympathie, wenn gewerkschaftliche Strategie überdreht und Macht mißbraucht wird.

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