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Die Grubenverstaatlichung in England

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Fast alle europäischen Staaten haben jetzt ein sozialpolitisches und wirtschaftliches Problem erster Ordnung gemein, die Sozialisierung oder auch die unter sozialpolitischen Vorzeichen gesetzte Verstaatlichung der Bewirtschaftung der Bodenschätze. Mit um so größerer Spannung wendet sich die Erwartung der Sozialpolitiker und Volkswirtschafter den Lösungen zu, um die auf dem wichtigsten einschlägigen Gebiete, dem des Kohlenbergbaues, gegenwärtig England ringt. Mit den Worten „die Krise in der Kohlenindustrie ist zum Zentralproblem der britischen Wirtschaft geworden“, umschrieb schon vor einigen Monaten die „Times“ die Tragweite des Themas, dem seither der Wahlerfolg der Labour Party ein neues Gesicht gegeben hat. Die Partei beabsichtigt, die Bahnen und Elektrizitätswerke und in erster Linie auch die Kohlengruben in staatlichen Besitz überzuführen. Für die Verkehrsunternehmungen und die Kraftstromwirtschaft bestehen nicht sonderlich Schwierigkeiten, da das englische Bahnnetz schon seit vielen Jahren im Besitz von nur vier regional ausgerichteten Gesellschaften ist und weil die Elektrizitätsversorgung vor zwei Jahrzehnten unter staatlicher Patronanz, nach dem sogenannten Grid-System, steht, ein über die ganze Insel ausgebreitetes Netz von Kraftanlagen und Hochspannungsleitungen ist, geschaffen worden, bei gleichzeitiger Stillegung vieler kleiner und mittlerer Elektrizitätswerke. Der Verstaatlichung stehen hier keine Hindernisse organisatorischer Natur entgegen.

Ganz anders geartet ist es beim Kohlenbergbau. Dieser ist auch in England' durch eine große Zersplitterung der Eigentumsverhältnisse gekennzeichnet; längst überholt erscheinende Bodenrechte reicher Feudalherren komplizieren den Fall. Den Eigentümern dieser servitutsähnlichen Berechtigungen fallen ansehnliche Renten zu, im ungeschminkten Sinne des Wortes arbeitsloses Einkommen. Trotzdem spielt dieser Gesichtspunkt in den Streitfragen nicht eine ausschlaggebende Rolle. Viel ernster ist es, daß sich Unternehmertum und Arbeiterschaft seit dem Ende des ersten Weltkrieges in zunehmendem Maße auseinandergelebt haben. Die Vertreter der Arbeiterschaft sehen jetzt nur noch in der Verstaatlichung der Gruben Lösung des sozialen Konfliktes, der die Wirtschaft des ganzen Landes angeht. Die konservative Partei setzt sich gegen dieses Verlangen mit aller Macht zur Wehr. Wenn auch das Mißtrauensvotum der Konservativen, das gegen die Wirtschaftspolitik der Arbeiterpartei gerichtet war, mit großer Mehrheit abgelehnt wurde, so ist damit noch nicht der letzte Entscheid über Wert oder Unwert der Verstaatlichung und die Einzelheiten ihrer Durchführung gefällt.

Die damit zusammenhängenden Fragen sind für England derart schwierig, daß eine eindeutige Antwort noch nicht gegeben ist. Die Förderleistungen des britischen Kohlenbergbaues sind seit Jahren, nicht zuletzt auch .während des zweiten Weltkrieges, tändig zurückgegangen. An Versuchen, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, hat es nicht gefehlt. Eine im April J. von der Regierung angebotene und von den Bergarbeitern auch angenommene Vereinbarung, die vier Jahre Geltung haben soll, garantiert jedem Grubenarbeiter einen Mindestlohn. Doch das Abkommen befriedigte nicht, es folgten diesem „Friedensplan“ neue Arbeitseinstellungen und ein abermaliger Rückgang der Förderleistung, so daß der Brennstoffbedarf der Industrie streng rationiert und der Bahnverkehr eingeschränkt werden mußte. Die erfolgten Teilzugeständnisse befriedigten die Arbeiterschaft nicht; sie verlangten eine totale Lösung des Bergbauproblemes. Als erschwerend steht dem entgegen, daß die Gestehungskosten der englischen Kohle zu hoch sind und die Konkurrenzfähigkeit am Weltmarkt für Kohle aber auch für die gesamte britische Wirtschaft in Frage stellen. Uber diese Gefahr ist sich auch die Führung der Grubenarbeiterschaft im klaren.

Während sich nun die Grubenbesitzer über die zu geringe Arbeitsleistung beklagen, weist die Arbeiterschaft mit Nachdruck auf ein dauerndes Versagen des Unternehmertums sowie der Regierungen hin, die nichts oder doch viel zuwenig getan hätten, um die technische Rückständigkeit der Mehrzahl der Kohlengruben rechtzeitig zu beheben. Nicht weniger entschiedener Kritik unterliegt auch die viel zu weit gehende Zersplitterung in den Besitzverhältnissen, die neben der allzu schwachen Unternehmerinitiative für die Unterlassung notwendiger Modernisierungsarbeiten verantwortlich gemacht wird. Daß hier sehr viel nachzuholen ist, wird auch von konservativer Seite zugegeben. Das konservative „Tory Reform Committee“ hat daher schon vor längerer Zeit den Vorschlag gemacht, die Modernisierung des Kohlenbergbaues allenfalls durch den zwangsweisen Zusammenschluß der Bergwerke zu großen und leistungsfähigen Konzernen zu fördern, doch komme es auf eine maximale Leistung der Arbeitnehmer und auf einen erhöhten Unternehmungsgeist und nicht so sehr darauf an, ob staatliches oder privates Eigentum im britischen Bergbau die Regel sein soll. Das Komitee, das den Grundsatz des Privateigentums vertritt, verstand sich gleichwohl zu der wichtigen Einschränkung, daß ein unbehinderter Individualismus durch die Zeitverhältnisse als überholt zu betrachten und in seinen sozialen Folgerungen abzulehnen sei. Inhaltlich deckt sich dieser Vorschlag im wesentlichen mit dem der „Samuel-Kommission“, die 1926 ihren Bericht dem englischen Unterhaus unterbreitete, ohne jedoch damit einen greifbaren Erfolg zu erzielen. Aus dem Jahre 1919 ist noch das Votum der „Sankey-Kommission“ in Erinnerung, die sich damals unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg mit diesem Herzstück englischer Nationalökonomie befaßt, schon für die Verstaatlichung sämtlicher Gruben eingetreten war.

Wenn jetzt die Labour Party auf den Sankey-Vorschlag zurückgegriffen hat, so spielt dabei neben anderen Argumenten gewiß auch der Bericht eine wichtige Rolle, der im Vorjahr von den nach England berufenen amerikanischen Sachverständigen erstattet wurde und aus dessen Vertraulichkeit doch bekannt wurde, daß er eine sehr kritische Lage aufzeigte. Wie große Ausmaße bei jeder Reform in Erscheinung treten werden, deutet schon eine Schätzung der Zechenbesitzer an, die allein für die technische Neuausrüstung der Kohlengruben nicht weniger als 150 bis 300 Millionen Pfund Sterling veranschlagten.

Dies ist auch für die heutige, an Millionenbeträge gewohnte Zeit eine außerordentlich hohe Summe, deren Aufbringung im privaten Wege nicht leicht fallen wird. Die Vertreter der Bergarbeiter folgern daraus, daß auch eine Zusammenfassung der Bergwerkbetriebe zu Großkonzernen einer kontrollierten Privatwirtschaft nicht mehr hinreicht, um den imperativen Forderungen der Gesamtlage gerecht werden zu können.

Aus der Erklärung des englischen Premierministers geht eindeutig hervor, daß die jetzige britische Regierung an ihrem Verstaatlichungsprogramm festhält. Gewinnt dieser Plan Leben, so wird in der Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialrechtes für Westeuropa ein außerordentlich bedeutungsvolles neues Kapitel aufgeschlagen.

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