Die gesuchte Mitte

19451960198020002020

Immer öfter geht es in der politischen Debatte nicht um Fakten, sondern um den Gestus der moralischen Überlegenheit.

19451960198020002020

Immer öfter geht es in der politischen Debatte nicht um Fakten, sondern um den Gestus der moralischen Überlegenheit.

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Spiel, das wir kennen: Am 14. Juni 2018 präsentierten die Parlamentsklubs von ÖVP und FPÖ ihren Gesetzesantrag zur Arbeitszeitflexibilisierung. Wie es sich schickt, wird just am selben Tag Wolfgang Katzian zum neuen ÖGB-Präsidenten gewählt. Er nimmt die Situation als Einstandsgeschenk und wettert wortgewaltig gegen dieses Vorhaben.

Als in den folgenden Wochen die Debatte zu dieser Maßnahme Schwung aufnimmt, mischen sich kirchliche Vertreter, sowohl aus dem Klerus als auch Laien, in die kritischen Stimmen. Die Bischöfe versteigen sich gar zur Behauptung, das Konkordat würde verletzt werden, wenn die Möglichkeit zur Sonntagsarbeit ausgeweitet würde. Bei allem Respekt für das hehre Ziel der Sonntagsruhe, die Wahrnehmung dieser katholischen Funktionäre ist selektiv. Zum einen gibt es jetzt schon die verschiedensten Ausnahmen für Bereiche wie Gesundheit und Sicherheit, aber auch Gastronomie und Tourismus, zum anderen findet Sonntagsarbeit natürlich auch im Verantwortungsbereich der Kirche statt. Einrichtungen, wie Shops in Klöstern und Andenkenstände bei Wahlfahrtsorten, haben keinerlei Kritik zu befürchten.

Selektive Wahrnehmungen

Als vor Jahren das Offenhalten der Geschäfte am 8. Dezember ermöglicht wurde, brach ein Sturm der kirchlichen Entrüstung los. Allerdings musste man sich vom damaligen Wiener Handelskammerpräsidenten sagen lassen, dass es etliche Jahre zuvor sogar den "goldenen und silbernen Sonntag" gegeben habe. Damit waren die offenen Geschäfte am dritten und vierten Adventsonntag gemeint. Überdies ist der 8. Dezember nur in den wenigsten Ländern ein Feiertag. In Österreich kaum wahrgenommen, wurden in Italien in den 1970er-Jahren die Feiertage Christi Himmelfahrt und Fronleichnam abgeschafft. Der damalige Papst, Paul VI., meinte dazu, man könne Gott auch durch Arbeit ehren. In Österreich sind wir vor solchen Maßnahmen ja tatsächlich durch das Konkordat geschützt.

Man sah aber nicht nur die Sonntagsruhe, sondern auch die Sozialpartnerschaft und den sozialen Frieden insgesamt in Gefahr. Der Grund dafür lag in der Art der Beschlussfassung. Man wählte den kurzen Weg eines Initiativantrags im Nationalrat und vermied eine Regierungsvorlage mit einer ausführlichen Begutachtungsmöglichkeit. Was dabei außer Acht gelassen wurde, war die Festlegung der alten SPÖ-ÖVP-Regierung, eine Regelung zu beschließen, falls die Sozialpartner bis 30. Juni 2017 keine Lösung fänden. Das gelang diesen tatsächlich nicht, wenngleich es eine recht weitgehende Annäherung gab. Auf Grund der Neuwahlen wurden im Vorjahr aber nicht die Konsequenzen gezogen und, wie angekündigt, entsprechende Regelungen verabschiedet.

Auch diesbezüglich lässt sich eine selektive Wahrnehmung feststellen. Wenn es schnell gehen sollte, und dies war gerade vor Wahlen der Fall, wurden alle Fristen abgekürzt und bedenkenlos Beschlüsse ohne jede Qualitätskontrolle durchgewinkt. Kritiker blieben einsame Rufer in der Wüste. Was hat sich geändert? Ach ja: man hat es mit neuen handelnden Personen zu tun.

Die in der Frage der Arbeitszeitflexibilisierung in einer "unheiligen" Allianz auftretenden Funktionäre der Kirche, der Gewerkschaft und mancher Oppositionspartei erreichen vielfach nicht mehr die Personen, die zu vertreten sie vorgeben. Diese begeben sich mitunter in eine innere Emigration oder überziehen ihrerseits diese Funktionäre mit übertriebener und unqualifizierter Kritik. Was sich hier abbildet, ist eine Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung.

In der Auseinandersetzung zwischen den beiden geht es dabei nicht mehr um Fakten und um den Versuch, die bestmögliche Lösung in einer Sachfrage zu erzielen, sondern um den Gestus der moralischen Überlegenheit und um die mangelnde Bereitschaft, Mehrheitsbeschlüsse zur Kenntnis zu nehmen. Demokratie bedeutet immer ein Spannungsverhältnis von Konkordanz und Konkurrenz. Die Verantwortung der Regierenden liegt im Vorlegen von Vorschlägen und zumindest im Versuch, Ergänzungen und Einwänden Rechnung zu tragen. Gelingt dies nicht, so ist es legitim, die Mehrheit für die eigenen Vorstellungen einzusetzen. Die Minderheit hat dies letztlich zur Kenntnis zu nehmen. Sie kann ja bei den nächsten Wahlen ihrerseits um die Mehrheit der Wähler werben. Demokratie bedeutet immer nur Herrschaft auf Zeit.

Fehlende Diskussionskultur

Genauso hat Karl Popper auch den größten Vorzug der Demokratie gegenüber anderen Staatsformen verstanden, nämlich als Möglichkeit, Herrschende "unblutig" abzuwählen. Das bedeutet nicht, dass die Regierenden unbedingt Recht haben müssen. Popper folgend soll bei diesen Überlegungen auch nicht festgestellt werden, wie geglückt das beschlossene Gesetz zur Arbeitszeit tatsächlich ist, sondern Thema sollte die Vorgangsweise der handelnden Personen sein. Wenn dies nunmehr auch von manchen bestritten wird, ein Grundkonsens zur Anpassung an wirtschaftliche Gegebenheiten hat ja sehr wohl bestanden. Was nur leider augenfällig wurde, war die fehlende Diskussionskultur in unserem Land.

Genau diese Kultur vermissen wir in der Causa prima der letzten Jahre, der Migrationsfrage. Ziel muss eine ausgewogene, vernünftige Lösung auf der Basis von Fakten sein. Erfahrungen, aber auch Sorgen und unterschiedliche Vorschläge sind ernst zu nehmen. Jemand, der von vornherein abqualifiziert wird, wird seinerseits nicht bereit sein, anderen Meinungen Gehör zu schenken. Wie Erhard Busek bei einem Zeitzeugengespräch in der Pädagogischen Hochschule nachdrücklich darlegte, gibt es gute Gründe, die Vorgangsweise in den Visegrád-Staaten abzulehnen, aber man müsste miteinander reden können.

Wie sehr das gegenseitige Verständnis fehlt, zeigte eine Veranstaltung an der Diplomatischen Akademie. Auf die Frage aus dem Publikum, warum Ungarn so wenige Flüchtlinge aufnehme, verwies der anwesende ungarische Minister auf die ungeheure Aufgabe, die seine Regierung mit der Integration der bereits im Land lebenden Roma zu bewältigen habe. Wenn dies auch bei weitem noch nicht jede Maßnahme erklärt oder überhaupt nachvollziehbar macht, wurde damit doch den Konferenzteilnehmern die Notwendigkeit eines verbesserten Dialogs auf Augenhöhe deutlich.

Wohlfeile Gesinnungsethik

Die erwähnte Problemstellung legt auch das Spannungsverhältnis zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik offen dar. Privatpersonen, seien sie kirchlich, sozial oder aus anderen Motiven engagiert, können ohne größeres Risiko ihre Gesinnung praktizieren, denn sie laufen nicht Gefahr, ein Staatsschiff lenken zu müssen. Sie können sich auf einer Seite, nämlich auf jener der moralisch Überlegenen, weit hinauslehnen, weil sie darauf vertrauen können, dass andere dafür sorgen, dass das Schiff auf geradem Kurs bleibt. Sie wissen, dass sie nicht auf der Kapitänsbrücke landen werden.

Wie relativ soziale Forderungen sind, können wir bei Karl Freiherr von Vogelsang sehen. Der katholische Sozialreformer, übrigens wie Karl Marx 1818 geboren, forderte neben der Sonntagsruhe den Elfstundentag. Darüber hinaus war es ihm möglich, weitere Sozialgesetze in der Zeit der Regierung Taaffe (1879-1893) durchzusetzen. Sein Gesellschaftsmodell einer ständischen Organisation war allerdings rückwärtsgewandt und unpraktikabel wie auch entsprechende Ideen in der Enzyklika "Quadragesimo Anno" (1931). Daraus wird ersichtlich, dass sich religiöse Einrichtungen eher darauf beschränken sollten, allgemeine Grundsätze einzufordern. Konkrete Modelle sollte man möglichst Fachleuten überlassen. So wurde sowohl die soziale Marktwirtschaft als auch später die ökosoziale Marktwirtschaft von Persönlichkeiten entwickelt, die durchaus christlich geprägt waren. Beide Modelle erwiesen sich als praktikable Wege der Mitte, die jenen finanziellen Erfolg schufen, der Transferleistungen für weite Kreise der Bevölkerung erst ermöglichte.

Der wachsende Dissens ist nicht nur aus österreichischer Wahrnehmung bemerkbar. Die Krise der verlorenen Wegmarken zur Mitte der Gesellschaft gilt allgemein. Letztlich sollten wir uns in allen Streitfragen an Blaise Pascal halten: Die Mitte verlassen, heißt die Menschlichkeit verlassen.

Der Autor ist Historiker, AHS-Lehrer für Englisch und Geschichte sowie Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung