6604551-1954_10_01.jpg
Digital In Arbeit

Appell nach oben und unten

Werbung
Werbung
Werbung

Zwei Mächte sind auf dem Kriegspfade und drohen ein heilloses Unglück anzurichten: ein starkes Industriekartell und die im Gewerkschaftsbund zusammengeballte Kraft organisierter Arbeiterschaft. Es sei hier nicht abgewogen, welche der beiden Mächte die größere Verantwortung trifft: ist es die des Unternehmerverbandes, dessen breit in die Wirtschaft hineinwirkender Vorstoß in das Preisgefüge die mit großer Anstrengung und außerordentlichem Erfolg errungene Stabilisierung der Oekonomie umzustürzen sich anschickt, oder die des Gewerkschaftsbundes, der, heute eingefügt in die Struktur des Staates, aus dem Konsens aller sozialbewußten Elemente des österreichischen Volkes geboren wurde. Aber wie immer es sei, es ist über den zunächstliegenden Anlaß hinaus tief zu beklagen, daß eine Unternehmerorganisation durch ein hüllenloses Preisdiktat die Erinnerung an alle die grundsätzlichen Einwände gegen die Etablierung karteilmäßiger omnipotenter Herrschaftsverbände in der Wirtschaft erneuert. Ist anderseits der Gewerkschaftsbund, der heute in den Staat eingebaut ist und daraus eine unvergleichliche Legitimation empfängt, nicht zumindestens ebenso an hohe Verantwortlichkeit gebunden? Sein soziales Fundament verpflichtet ihn der ganzen Bevölkerung.

Es tut not, unvoreingenommen den Blick auf das Ganze gerichtet, die Tatsache zu betrachten: Niemand wird behaupten können, daß der Oesterreichische Gewerkschaftsbund seine Hauptaufgabe, nämlich den Arbeitnehmern ihren gerechten Anteil am Sozialprodukt zu sichern, nicht erfüllt hätte, wo immer es sich um den Arbeiterstand handelt. Dessen Lohn kann man mit dem 7,4fachen gegenüber dem Stand von 1945 als valorisiert betrachten, während für die intellektuellen Angestelltengruppen eine Teilvalorisierung auf das 4,7fache erst nach zwei Jahren in Aussicht steht. Der Lebenshaltungskostenindex für eine vierköpfige Arbeiterfamilie in Wien konnte von April 1945 = 100 und 614,4 im Februar 1951 auf 837 im Juni 1952 gesteigert werden und fiel in Auswirkung der bekannten Preissenkungsaktion bis Jänner 1954 auf 816. Demgegenüber war der Index der Arbeiternettolöhne in den Jahren 1952 und 1953 mit 723 (April 1945 = 100) stabil geblieben und im Jänner 1954 auf 739 angetiegen, wobei es sich nur um die Grundlöhne handelt. Nicht so stabil war die Lohnentwicklung jenseits der Tariflöhne, sofern es sich um Zulagen, Aenderungen der Akkordsätze, Ueberstundenlöhne, Leistungsnormen und um solche Verbesserungen handelte, die nur mittelbar lohnpolitische Auswirkungen haben. Bei den parlamentarischen Beratungen der Steuersenkung konnte man eine sehr anschauliche Reihe von finanziellen Sonderbegünstigungen kennenlernen, die der Rührigkeit einzelner Fachgewerkschaften ein gutes Zeugnis ausstellen, die aber, sachlich gesehen, keinen Start für generelle Lohnerhöhungen bieten. Bei den Bauarbeitern beispielsweise mußten derartige Steuerbefreiungen erteilt werden für: Erschwerniszulagen, Fehlgeldentschädigungen, Feiertagszuschläge, Freimilch, Freitrunk, Gefahrenzulage, Jubiläumsgeschenke, Zuschüsse der Arbeitgeber zu Mahlzeiten, Nachtdienstzulagen, Schmutzzulagen, Sonntagszuschläge, Werkzeuggelder und Zinsenersparnisse beiDarlehen an den Arbeitnehmer. Alles dies gilt schon für den derzeitigen Stand.

In den letzten Monaten hat sich keine ausreichende wirtschaftliche Begründung für eine allgemeine Lohnbewegung ergeben. Die seinerzeit von der kommunistischen Presse prophezeite Verteuerung der Lebenshaltung infolge der Kursvereinheitlichung bzw. die dadurch bedingte Verteuerung einiger Einfuhrgüter ist in den wirtschaftlichen Zwischenphasen restlos aufgesaugt worden. Für die Preiserhöhung der Verkehrsmittel hat die gleichzeitig wirksam gewordene Herabsetzung der Lohnsteuer eine Kompensation geboten; eine Steuerermäßigung, die in den untersten Kategorien bis zu 61 Prozent geht. Das Ansteigen der Großhandelspreise im Jänner dieses Jahres war minimal und saisonbedingt; im gleichen Monat ist auch der durchschnittliche Reallohn der Arbeitnehmer um 2,5 Prozent angestiegen.

Nun stehen seit Neujahr in der Bundessektion Gewerbe insgesamt 37 Forderungen auf Lohnerhöhung seitens des Gewerkschaftsbun- des offen, die bis zu 15 Prozent des bisherigen Lohnes gehen; das Forderungsprogramm der Gewerkschaft der Bau- und Holzarbeiter wird nach einer Berechnung der Innung die Lohnkosten sogar um 50 bis 60 Prozent erhöhen und die Mietzinse in den Neubauten entsprechend verändern.

Und das wäre nicht die einzige Folge. Niemand weiß es besser als die erfahrenen Wirtschaftsbeobachter des Gewerkschaftsbundes, daß die aus einer Störung des Preisgefüges entstehende Ueberforderung an das Sozialprodukt heute auch bei den geistigen Arbeitern Kettenreaktionen hervorrufen müßte. Den darum Wissenden kann es unmöglich verborgen sein, daß unter der Einwirkung solcher Stöße gegen die wirtschaftliche Stabilität das seit drei Jahren mit harter Mühe erkämpfte Wirtschaftsniveau und die endlich erreichte günstige Gestaltung der Handels- und Zahlungsbilanz über Nacht verlorengehen könnten.

Soll die Taktik mancher Fachgewerkschaften uns wieder der Mentalität der ersten Nachkriegszeit näher bringen, der zufolge Schuldirektor und Schulwart ungefähr gleich hoch bezahlt wurden? In dieser Nivellierungssucht liegt zugleich ein Kampf gegen die Produktivität und gegen eine Erhöhung des Lebensstandards auch der breiten Masse. Jede gesunde Gewerkschaftspolitik wird sich zu der Tatsache bekennen, daß der weitere Aufbau der Wirtschaft und die Erhöhung ihrer Produktivität eine verstärkte Funktion von Intelligenz und Wissenschaft zur Voraussetzung hat. Demgemäß wachsen auch in hochrationalisierten Volkswirtschaften die Intelligenzberufe stärker an; in den USA entfielen 1890 auf jeden Ingenieur 300 Handarbeiter, heute nur mehr 75. Nach der Berufsstatistik dortselbst wachsen jene Bevölkerungsgruppen am raschesten, die mit Bildung und Erziehung ausgestattet sind, da jede moderne Produktion, bevor sie überhaupt beginnt, Kopfarbeit voraussetzt. Im hochrationalisierten Schweden machten 1920 die wirtschaftlichen Angestellten 11 Prozent aller Berufsschichten aus, 1945 schon über 23 Prozent. In der ersten Hälfte des laufenden Jahrhunderts erhöhte sich in der Schweiz die Zahl der manuellen Arbeiter um 20 Prozent, die der geistigen Arbeiter afifr um 217 Prozent. In jenen Staaten gibt es aber auch kein Schlagwort von der „Unproduktivität der geistigen Arbeit", die eine materielle Besserstellung des Intellektuellen überflüssig erscheinen lasse. Das heißt aber auch, daß die Verstärkung der geistigen Arbeit in dem Produktionsprozeß eine Erhöhung des Lebensstandards im industriellen Arbeitssektor und den sozialen Aufstieg der Arbeitnehmerschaft mit sich bringt.

Die Führung der Arbeiterschaft, deren Stärke im Gewerkschaftsbund verankert ist, kann auf diese Macht pochen und alle Erfahrungen moderner Sozial- und Volkswirtschaft von sich weisen; sie vermag sich ihrer Ordnungsaufgabe inmitten des Volksganzen zu entziehen und, primitiven Impulsen folgend, gegen die ihr anvertraute Verantwortung handeln; sie kann kartellstolzen Unternehmern auf solche Weise zeigen, daß auch der Gewerkschaftsbund den diktatorischen Lockungen der Macht, gleichgültig, was es- koste, huldigt, oder aber die Führung kann zeigen, daß sie sich mutig zu den Verpflichtungen der Macht an die Gemeinschaft bekennt und durch ihr Handeln beweist, daß sie besser der öffentlichen Wohlfahrt zu dienen versteht und eine gute Lektion bereit hält für einen von einer antiquierten Geistesrichtung inspirierten Kapitalismus.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung