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Periode der Reform

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Zwischen 1965 und 1969 ist das reale Bruttonationalprodukt pro Kopf in Österreich um 18,5 Prozent gestiegen. Damit ist diese Zuwachsrate größer als vergleichsweise in der Bundesrepublik Deutschland, in Schweden und den USA. Noch kräftiger ist die Steigerung des realen Masseneinkommens mit 24 Prozent. 1965 machte das gesamte Budgetvolumen des Bundes noch 66,8 Milliarden aus. 1970 beträgt es 101 Milliarden Schilling. Dieser Steigerung von nicht weniger als 51,4 Prozent steht aber eine Erhöhung des Sozialbudgets um 66,4 Prozent, davon allein im Bereich der Sozialversicherung sogar um 86,3 Prozent, gegenüber. Dieses absolut und relativ höchste Sozialbudget des Bundes ür 1970 mit 16,1 Milliarden Schilling ist der Ausdruck einer aktiven Sozialpolitik.

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Zwischen 1965 und 1969 ist das reale Bruttonationalprodukt pro Kopf in Österreich um 18,5 Prozent gestiegen. Damit ist diese Zuwachsrate größer als vergleichsweise in der Bundesrepublik Deutschland, in Schweden und den USA. Noch kräftiger ist die Steigerung des realen Masseneinkommens mit 24 Prozent. 1965 machte das gesamte Budgetvolumen des Bundes noch 66,8 Milliarden aus. 1970 beträgt es 101 Milliarden Schilling. Dieser Steigerung von nicht weniger als 51,4 Prozent steht aber eine Erhöhung des Sozialbudgets um 66,4 Prozent, davon allein im Bereich der Sozialversicherung sogar um 86,3 Prozent, gegenüber. Dieses absolut und relativ höchste Sozialbudget des Bundes ür 1970 mit 16,1 Milliarden Schilling ist der Ausdruck einer aktiven Sozialpolitik.

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Die dargestellten Größen sind Auswirkungen eines beachtlichen Umverteilungsprozesses innerhalb einer hochentwickelten sozialen Leistungsgesellschaft. Steigt doch bekanntlich der Anted! der sozialen Ausgaben in einer wachsenden Wirtschaft fast überproportional. Das bedeutet aber Leistungen aller für alle. Jeder Mitbürger ist in unserer modernen Industriegesellschaft durch eine umfassende Sozialpolitik zu „meinem Nächsten“ geworden.

Das Gewicht der Sozialpolitik und ihre Zielsetzungen haben daher in der letzten Zeit eine starke Verlagerung erfahren. Im vergangenen Jahrzehnt stand noch die Schaffung und der Ausbau der sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer im Vordergrund.

Eine Sozialpolitik für alle,

unter welchem Motto Sozialminister Reho" 1966 in das Haus am Stubenring einzog, darf nicht nur den sozialen Schutz der zweifellos größten Bevölkerungsgruppe, der Arbeitnehmer, im Auge haben. So sind die Neuregelungen der Krankenversicherung der Gewerbetreibenden (GSKVG) 1966 und die jüngst erfolgte Verabschiedung des Bauem- Pensionsversicherungsgesetzes entscheidende Beispiele umfassender sozialer Rechtsgestaltung.

Aber auch das bereits bestehende System sozialer Sicherheit (ASVG, GSPVG und LZVG) wurde seit 1966 in vieler Hinsicht verbessert. Die Milderung der Ruhensbestįmmun- gen, die Aufhebung der zeitlichen Grenzen für die Krankenbehandlung und Krankenhauspflege, die Erhöhung der Witwenpensionen ab 1. Juli 1970 seien hier nur kurz als Beispiele erwähnt.

Darüber hinaus galt es, Bereiche des sozialen Lebens neu zu überdenken, in denen sich der Erfolg vorausblik- kender Maßnahmen erst später einzustellen pflegt. Das gilt beispielsweise für Angelegenheiten der Volksgesundheit. Neben einer Aktivierung der Gesundheitsaufklärung wären hier das TBC-Gesetz, das Strahlenschutzgesetz, die Verbesserungen des Lebensmittelrechtes, das Krebsstatistikgesetz sowie eine Novelle zur quantitativen und qualitativen Verbesserung des Krankenpflegepersonals anzuführen.

Neben der Ausweitung der Sozialpolitik auf nationaler Ebene treten immer stärker die Anforderungen auf zwischenstaatlicher und internationaler Ebene. Freizügigkeit bed vollem sozialen Schutz ist ein Erfordernis für das Europa von morgen. Zwischen 1966 und 1969 wurden mit der Schweiz, mit Liechtenstein, Frankreich, der Türkei, Spanien und der Bundesrepublik Deutschland Abkommen über die soziale Sicherheit getroffen oder ausgebaut. Aus der Zahl der seit 1966 ratifizierten internationalen Instrumente sei nur eines h erausgegriffen:

Am 30. Oktober 1969 hat Österreich die Europäische Sozialcharta ratifiziert. In ihrem Mittedpunkt steht das Recht aiuf Arbeit und Soziale Sicherheit. Diese Rechte des einzelnen auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit in allen Bereichen des Lebens sind Wesensmerkmale des sozialen Rechtsstaates. Ihre Gestaltung ist ein Auftrag an die Gemeinschaft, an den Staat.

Der jüngste und sicher augenfälligste Baustein moderner Sozialpolitik die ser Gesetzgebungsperiode ist das Arbeitszeitgesetz.

Arbeitszeitgesetz beschlossen

Mitglied einer mündigen Gesellschaft mit wachsender Verantwortung zu sein, erfordert Mitdenken und bewußtes Mitbestimmen. Dazu bedarf es einer höheren und ständig erweiterten Bildung. Auf dem Weg zur Freizeit- und Bildungsgesellschaft der Zukunft ist somit eine Arbeitszeitverkürzung eine ganz entscheidende Station.

Die 40-Stunden-Woche kommt. Mit dem Beschluß des Arbeitszeitgesetzes hat Österreich seine Schrittmacherstellung in der internationalen Sozialpolitik erneut bewiesen und im Jahre des fünfzigjährigen Bestandes der Internationalen Arbeitsorganisation die Empfehlung Nr. 116, betref fend Verkürzung der Arbeitszeit, vom 6. Juni 1962, verwirklicht. Wie in den skandinavischen Ländern, in England und der Bundesrepublik Deutschland, wo bis Mitte der siebziger Jahre die 40-Stunden-Woche verwirklicht sein wird, beträgt in Österreich kraft Gesetzes die Normalarbeitszeit spätestens ab 6. Jänner 1975 40 Wochenstunden.

Die damit verbundenen Probleme zeigte besonders die Studie des Beirates für Wirtschafts- und Sozialfragen über Probleme der Arbeitszeitverkürzung vom Feber 1969 auf. Zur besseren Bedachtnahme auf die wirtschaftliche Entwicklung wurde dort ein flexibler, durch die Sozialpartner variabler Arbeitszeitverkürzungsplan bis 1975 vorgeschlagen. Die Sozialpartner haben sich in der Folge, beim Abschluß des Generalkollektivvertrages zur etappenwei- sen Einführung der 40-Stunden-Wo- che, an diesen Vorschlag gehalten. Obwohl der Geltungsbereich dieses Vertrages vom 26. September 1969 noch umfassender ist als jener zur Einführung der 45-Stunden-Woche im Jahre 1959, waren sich diesmal die Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft und der österreichische Gewerks chaftsbund edndg, daß entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen für ein modernes Arbeits- zeitrecht unentbehrlich sind. Grundlage der parlamentarischen Verhandlungen im Herbst bildete formal das im Sommer eingeb rächte

Volksbegehren. Wohl am politischen Motiven sah dieser wesentlich starrer gehaltene Gesetzesantrag, der den sachlichen Vorschlag des Beirates vom Feber 1969 für einen Etappenplan bis 1975 beiseite geschoben hatte, eine Einführung der 40-Stunden-Woche schon bis 1973 vor. Aufbauend auf ministeriellen Vorarbeiten, die bis in das Jahr 1948 zurückreichen, konnten die Fraktionen der österreichischen Volkspartei und der Sozialistischen Partei Österreichs, im Einklang mit den Prinzipien des Go neralkollektivvertrages, am 11. Dezember 1969 ein österreichisches Arbeitszeitgesetz beschließen.

Fortschritte des Arbeitszeitgesetzes

Von den gesellschaftspolitischen Funktionen abgesehen, ist festzustellen, daß die Begrenzung der Arbeitszeit zium Schutze der Arbeitnehmer gegen vorzeitige Abnützung ihrer Arbeitskraft in öffentlich-rechtlichen Normen verankert ist und unter Strafsanktionen steht. Dies kann kein Einzelarbeitsvertrag und kein Kollektivvertrag ohne entsprechende gesetzliche Untermauerung herbeiführen, weshalb die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit unumgänglich geworden war.

Doch was bringt das Arbeitszeitgesetz außer diesen juristischen Erfordernissen und der Einführung der 40-Stunden-Woche noch Neues? Der Geltungsbereich ist umfassender als jener der reichsdeutschen Arbeits-

zeitordnung aus 1938. So unterliegen dem Arbeitszeitgesetz auch die Arbeitnehmer privater Krankenanstalten. Inhaltlich weist das sehr knapp gehaltene Gesetzeswerk eine Menge von Grundregeln auf, die leicht an die jeweiligen, unterschiedlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten angepaßt werden können. Für den überwiegenden Tedl der Arbeitnehmer wird eine Fünftagewoche zu je 8 Stunden ab 1975 wirksam sein, während etwa für die Donauschifffahrt die Zeit auf dem Schiff als 72-Stunden-Woche volle Arbeitszeit ist. Ein entsprechender Zeitausgleich in Form von längerem Urlaub zur Zeit des Niedrigwassers wird den Matrosen Gelegenheit geben, von der Arbeitszeitverkürzung tatsächlich Gehrauch machen zu können.

Trotz großer Flexibilität werden einzelne Dienstnehmergruppen weiterhin durch sondengesetzliche Arbeitszeitregelungen erfaßt bleiben; so die Hausbesorger auf Grund des ebenfalls am 11. Dezember 1969 beschlossenen Hausbesorgergesetzes; die Jugendlichen und Hausgehilfen, für die der Etappenplan durch Novellen wirksam wird.

Für die Landwirtschaft beschloß der Nationalrat gleichfalls eine Novelle zum Landarbeitergesetz. Für den öffentlichen Dienst sind teilweise ebenfalls schon Novellen gleichzeitig mitveraibschiedet oder wird ein neues Gesetz ausgearbeitet.

An Einzelregelungen seien einige Verbesserungen hervorgehoben: Der Zeitraum zur Einarbeitung von Arbeitstagen, dde etwa zwischen ( inem Feiertag und dem Wochenende liegen, wurde auf sieben Wochen verlängert. Auch in Fällen der Arbeitsberedtschaft, wie bei Portieren oder Taxichauffeuren, wird nach 1975 die verlängerte Normalarbeitszeit höchstens sechzig Wochenstunden betragen.

Überstundenarbeit, einschließlich der Vor- und Abschlußarbeiten, wie das

Zuendebedienen von Kunden, Mehrarbeit in Katastrophenfällen, ist nunmehr mit einem gestaffelten Zuschlag von 25 Prozent und dann 50 Prozent zu bezahlen. Allerdings kann der Kodlektivvertrag auch eine Pauschalabgeltung, etwa im Handel für die ersten fünfzehn Minuten beim Zuendebedienen der Kunden, vorsehen. Neu ist die Möglichkeit für den Arbeitgeber, ohne Einschaltung einer Behörde bis zu fünf Überstunden pro Woche anordnen zu können. Dafür wird der Arbeitnehmer, entsprechend der bisherigen gerichtlichen Praxis, Mehrarbeit unter Hinweis auf berücksichtigungswürddge, schwerwiegende Gründe ablehnen können. Soll die halbstündige Ruhepause anders aufgeteilt werden, so hat der Betriebsrat ein gesetzliches

Mitspracherecht. Kurzpausen in kontinuierlichen Betrieben und längere, durch das Arbeitsinspektorat aus Gesundheitsgründen angeordneta Ruhepausen sind bezahlte Arbeitszeit.

Wirtschaftswachstum und aktiv Arbeitsmarktpolitik

Wie 1959, bei der Einführung der 45-Stunden-Woche durch einen Generalkollektivvertrag, ist auch für die Erreichung der 40-StJunden-Wo- che im Jahre 1975 das Anhalten eines kräftigen Wirtschaftswachstums ein Grunderfordemis. Das setzt aber zusätzliche Investitionen zur Rationalisierung der Industrie und des Gewerbes, den Leiistungsausgleich, und eine raschere Durchführung von strukturellen Anpassungsprozessen voraus. Für die unselbständig Erwerbstätigen bedeutet dieser Wandlungsprozeß mehr Anpassung, mehr berufliche und örtliche Mobilität.

Alle Arbeitnehmer sollten möglichst an einem Arbeitsplatz wirken können, wo sie am meisten leisten und am besten verdienen. Dazu stehen die Förderungsmöglichkeiten zur Um- und Nachschulung des 1968 beschlossenen und seit dem 1. Jänner

1969 wirksamen Arbeitsmarktförde- rumgsgesetzes ebenso wie die immer günstigeren Bildungschancen während der längeren Freizeit bereit. Eine weitere Voraussetzung wird die größere Freizügigkeit auf dem europäischen Arbeitsmarkt sein. Dazu wird, neben dem zügigen Ausbau der zwischenstaatlichen Sozialversiche- rungsabkommen der letzten drei Jahre, das in Ausarbeitung befindliche Ausländerbeschäftigungsgesetz wesentlich beitragen.

Teilkodifikation des Arbeitsrechte

Nahezu 30 reichsdeutsche Vorschriften ersetzt das neue Arbeitszeitge- setz.

Ein gewichtiger Teil des Arbedt- nehmerschutzrechtes ist damit kodifiziert. — Der von der seit 1967 im Sozialministerium arbeitenden Kodi- f ika tionak omrrai s sion des Arbeitsrechtes eingeschlagene Weg wurde um ein beträchtliches Stück kürzer. Nicht übersehen soll hier auch das bereits am 25. Juni 1969 beschlossene Bundesgesetz über die Nachtarbeit der Frauen werden. Dieses bis 1969 ebenfalls in der reichsdeutschen Arbeitszeitordnung, welche für Österreich seit 1939 galt, geregelte Rechtsgebiet war durch Initiative von Sozialminister Grete Rehor österreichisches Sozialrecht geworden.

Damit war ein schwieriger Teil auf dem Weg zu einem neuen Arbedts- zedtgesetz bereits vorweg gelöst worden.

Die Fülle der Sozialgesetze der auslaufenden XI. Legislaturperiode des Nationalrates, von denen einige kurz aufgezeigt und das Arbeitszeitgesetz näher dargestellt wurden, beweist wohl eindeutig, daß hier Sozialpolitik für alle, gleichgültig, ob im aktiven Erwerbsleben oder in Vorbereitung auf dieses oder im wohlverdienten Ruhestand, gemacht wurde.

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