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Randbemerkungen ZUR WOCHE

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IM SCHATTEN DER LANDTAGSWAHLEN gingen diesmal die Arbeiter und Angestellten zu den Urnen, um ihre Vertreter in die Arbeiterkamm e'rn zu wählen. Und es wurden auch Wahlen im Schatten. Die bekannte Wahlfreudigkeit der Oesterreicher bleibt bei so speziellen Urnengängen aus. Eine Wahlbeteiligung von durchschnittlich 65, ja da und dort nur wenig über 50 Prozent müßte den zuständigen Stellen zeigen, daß diese für die breiten Massen der Unselbständigen geschaffene Institution nicht im Bewußtsein eben dieser Massen so felsenfest verankert ist, wie dies gerne behauptet wird. Das Ergebnis selbst bringt keine Ueberraschungen. Es zeigt nur, daß die Sozialistische Partei nach wie vor mit den Arbeitern der großen Fabriken und Werkstätten — sie stellten das Gros jener, die ihr Wahlrecht ausgeübt haben — als eine feste Größe rechnen kann. Unter den kleinen Angestellten hat die Volkspartei beziehungsweise ihr „linker Flügel" Möglichkeiten, deren Größe davon abhängt, inwieweit dieser den Kurs der Gesamtpartei im Interesse seiner Wähler beeinflussen kann. Der Rückzug des VdU auf allen Fronten hat eine neue kräftige Bestätigung erfahren. Das Experiment der „Parteilosen" blieb ein solches: zu Recht oder zu Unrecht — es bleibe dahingestellt — haftet ihnen das Odium der „gelben", das heißt von Unternehmern ausgehaltenen Gewerkschaften an. Die Protektion durch bestimmte Blätter war in diesem Fall eher eine Belastung als eine Unterstützung.

DIE FINGER BLUTIG GESCHRIEBEN und die Kehle heiser geredet haben sich Presse und Verbände, „Furche" und „Volksbote", Fachleute des Instituts für Sozialpolitik und Sozialreform, des Katholischen Familienverbandes und des Oesterreichischen Familienbundes zum Thema: Steuerreform im Sinne einer offenherzigen Familienpolitik. Das Ergebnis? Wie man hört, soll die angekündigte Lohn- und Einkommensteuersenkung zehn Prozent betragen — und z w a r linear. Allen Ueberlegungen nach der Seite der Steuergerechtigkeit, allen Bestrebungen, dem Familienlastenausgleich Reserven zuzuführen, zum Trotz — wieder einmal linear. Die Enttäuschung ist groß. Langsam fangen die Familienerhalter an dem guten Willen der Politiker, der Familie zu helfen, zu zweifeln an. Der Nationalrat ist daran, durch die Aufrechterhaltung und sogar Verschärfung eines ungerechten Steuertarifs anläßlich einer an sich erfreulichen Steuersenkung wieder ein Geschenk an die Kinderlosen oder Kinderarmen zu machen. Die steuerliche Ungerechtigkeit einer linearen Tarifsenkung ist klar: eine gleichmäßige Abrechnung von zehn Prozent bringt vor allem wieder Personen mit hohem Einkommen Vorteile. Wieder einmal wurde die unwiederbringliche Chance verpaßt, die im Steuertarif enthaltene Ungerechtigkeit gegenüber den kinderreichen Familien zu beseitigen. Und vorläufig hoffnungslos steht im Winkel die alte, gerechte Forderung nach der Steuerfreiheit des Existenzminimums auch großer Familien als eine Forderung der Gerechtigkeit.

MEHRMALS WURDE IN DER LETZTEN ZEIT die Frage der Ausbildung der Beamten des österreichischen Auswärtigen Dienstes und der Zulassungsbedingungen für unseren diplomatischen Dienst überhaupt aufgeworfen. Die für den Diplomaten notwendige universale und nicht einseitige Ausbildung auf verschiedenen Gebieten, wie Recht, Geschichte, Geographie, Wirtschaft und — last but certainly not least — Sprachen, ist heute nur mehr in der älteren Generation, wie z. B. bei den Absolventen der ehemaligen Konsularakademie, anzutreffen, während der Nachwuchs mit der den Verwaltungsbeamten anderer Ressorts zukommenden juristischen Ausbildung vorlieb nehmen muß. Statt den Verlust der Konsularakademie durch einen differenzierteren Beamtenkörper und durch eine Heranziehung von Akademikern der vorerwähnten in Betracht kommenden Fachgebiete auszugleichen, hat man sich jedoch in Oesterreich durch die nahezu ausschließliche Heranziehung von Juristen einer ganz einseitigen Einschränkung unterworfen. Ein Blick in die Verhältnisse anderer Staaten bringt uns die Starrheit dieses Systems erst recht zu Bewußtsein. In England richtet sich die Zulassung nach den Erfolgen im jeweiligen Fachstudium … und' den Sprachkenntnissen. Haben wir zwar in Oesterreich keine Spezialschule mehr, die dem zukünftigen Diplomaten die notwendigen Kenntnisse vermittelt, so gibt es doch im Ausland einige solcher Institutionen für interessierte Studenten beziehungsweise promovierte Akademiker, die auch immer mehr von Oesterreichern besucht werden. Ja, der österreichische Staat selbst entsendet zum Beispiel graduierte Akademiker an derartige Postgraduate Schools, ohne daß jedoch die heimkehrenden Absolventen nachher auf eine zweckentsprechende Verwendung rechnen können! Kann sich Oesterreich noch längerhin den paradoxen Zustand leisten, daß derartige Leute mit bester Ausbildung und Fähigkeit, wenn sie z. B. ihr Hauptstudium mit einem

Doktorat der Staatswissenschaften Oder der Geschichte abschlossen, nur über den Weg eines Ministerratbeschlusses in den Auswärtigen Dienst gelangen können? Es ist wirklich Zeit, eine entsprechende A ende- rung der Voraussetzungen durchzu- - führen.

AM 23. OKTOBER 1954 wurden in Paris von den Außenministern der Weststaaten t er Verträge unterzeichnet: 1. das Saar-Abkommen, 2. das Protokoll über die Beendigung . des Besatzungsregimes in der westdeutschen Bundesrepublik, 3. die Erklärung über die Ein- . ladung der Bundesrepublik und Italiens zum , Eintritt in den Brüsseler Pakt und 4. das Protokoll über die Einladung der Bundes- . . republik zum Eintritt in den Nordatlantikpakt. Alle diese Verträge, die, wenn sie von den ; Volksvertretungen der Weststaaten ratifiziert werden, ein erstmaliges politisches, mili- tärisches und wirtschaftliches Bündnissystem des ganzen freien Westens darstellen, hingen bis zuletzt an einem Angelpunkt: an der Saarfrage. Bundeskanzler Dr. Adenauer . hat das Verdienst, durch weitgehende Zu- „ geständnisse an Frankreich die kritische Klippe überbrückt zu haben. Die Saar erhält bis auf weiteres ein europäisches Statut mit einem europäischen Kommissar an der Spitze, der kein Franzose, kein Deutscher und kein Saarländer sein darf. Er wird ein Angehöriger der Beneluxstaaten sein; da der Saarvertrag gleichzeitig die Bitte ausspricht, Saarbrücken zur Hauptstadt der Montan-Union zu erheben, ) bedeutet das: eines der wichtigsten Industriereviere Europas, in dem in den Kriegen der letzten hundert Jahre die Waffen geschmiedet wurden für die Zerfleischung Europas, soll jetzt zur eisernen Klammer gemacht werden, welche die nationalen Wirtschaften der westeuropäischen Staaten verbindet zur europäischen Großraumwirtschaft. In Verbindung mit einer bereits jetzt projektierten deutschfranzösischen Schwerindustrie in Nordafrika ’ kann hier eine Wirtschaftsmacht entstehen, die geeignet ist, Amerika und Rußland die Waage zu halten. Die Perspektiven dieser Möglichkeit sind ungeheuer: Europa, das totgesagte Europa, anscheinend der S pi e 1 b al 1 globaler Weltmächte, könnte hier über Nacht zu einem Eigen- • gewicht werden, das den Weltfrieden sichert als eine Balance der großen Fünf: USA, UdSSR, China, Indien-Indonesien, Europa. - — Für Westdeutschland bedeutet das Pariser Paktsytsem vom 23. Oktober 1954 (wenn es … ratifiziert wird): Aufnahme in das westeuropäische und atlantische Verteidigungssystem (Brüsseler Pakt und NATO), die Verankerung seiner Truppen, Waffen und Wirtschaft im Bündnis mit der ganzen westlichen Welt, nicht zuletzt einen wichtigen Schritt • zur Erlangung der vollen Souveränität. Moskau hat in letzter Minute sich zu Wort gemeldet durch seinen Vorschlag einer Viererkonferenz im November, auf der es „freie, ge- samtdeutsche Wahlen", den österreichischen . Staatsvertrag und ein weltumfassendes Sicherheitssystem diskutieren will. — Der _ Westen läßt die Tür zu Verhandlungen mit dem Osten offen: die Bildung der westeuropäischen Union erfolgt mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß alle Verträge überprüft werden sollen, wenn es zu einer Wiedervereinigung Gesamtdeutschlands und zu einer Absprache mit dem Osten kommen sollte. — Mendės-France will bereits im November das gesamte Vertragswerk der französischen Nationalversammlung zur Billigung vorlegen, verbunden mit der Vertrauensfrage. Vor Weihnachten 1954 wird die Welt vielleicht ein erstmals geeintes Westeuropa sehen…

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