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Sozialpolitik - eine Verpflichtung

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Das nunmehr zu Ende gehende Jahr 1960, das fünfzehnte des politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaues der Zweiten Republik Österreich, hat zum Abschluß die sozialpolitischen Probleme in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Als Früchte der demokratischen Zusammenarbeit und als eine Folge langjähriger gewerkschaftlicher Bestrebungen ist es gelungen, entscheidende Verbesserungen sowohl auf dem Gebiete der F a-milienförderung wie auch auf dem Gebiete des Rentenrechts herbeizuführen. Alle positiven Kräfte unseres Landes haben damit bewiesen, daß sie sich auch in Zeiten eines relativen Wohlstandes ihrer sozialen Verpflichtung bewußt sind.

Dem sorgenbeladenen Nächsten zu helfen, ist eine hohe ethische Verpflichtung, eine Wahrung des Prinzips der Menschlichkeit gegenüber den Anfechtungen eines engstirnigen Egoismus und damit auch ein wesentlicher Beitrag zur Gemeinschaftsbildung innerhalb unseres Staatswesens gegenüber jeder Art auf Zwietracht und Mißgunst gerichteten Bestrebungen.

Die Sozialpolitik als ethische Verpflichtung hätte indes nur deklamatorischen Wert, gäbe es nicht reale Kräfte, die diesem Prinzip stets aufs neue zum Durchbruch verhelfen. Und das sind in erster Linie die Gewerkschaften.

WÜRDIGUNG DER ARBEITSKRAFT

Die gewerkschaftliche Organisation beruht auf der Idee des freiwilligen Zusammenschlusses zur gemeinsamen Erreichung besserer Lebensund Arbeitsbedingungen für die unselbständig Erwerbstätigen und deren Familien. Der wirtschaftlichen Überlegenheit derjenigen, die über die Verwendung der Produktionsmittel bestimmen, der Eigentümer also und auch der „Manager“, wird die Kraft der gemeinsamen Organisation gegenübergestellt. Erst dadurch erlangt die Arbeitskraft ihre wirtschaftspolitische Würdigung.

Die Gewerkschaften haben nicht nur den arbeitenden Menschen aus seiner einstigen Sklavenrolle befreit, sie haben auch der tätigen und schöpferischen Arbeit an sich Würde und Ansehen verschafft. Heute schämt sich niemand mehr, weil er arbeiten muß.

Mit der Wertschätzung allein ist es auch nicht getan. Sie muß ihren realen Ausdruck finden in menschenwürdiger Entlohnung, gerechter Behandlung und in ausreichender Sicherheit vor den materiellen Folgen unvermeidbarer Schicksalsschläge. Dafür treten die Gewerkschaften ein. Sie erfüllen wirtschaftspolitische, kulturpolitische und vor allem sozialpolitische Aufgaben.

DIE ZIELE DER GEWERKSCHAFTEN

Auf wirtschaftspolitischem Gebiet streben die österreichischen Gewerkschaften nach Erhaltung der Vollbeschäftigung, Erhöhung des Realeinkommens und nach Wirtschaftsdemokratie. Auf dem Sektor der Kulturpolitik wollen sie die Voraussetzungen für eine sinnvolle Verwertung der größer werdenden Freizeit des arbeitenden Menschen schaffen und ebenso die Ausbildungsmöglichkeiten sowohl der Jugend wie auch der Erwachsenen verbessern. Das sind alles große und wichtige Aufgaben, die sich die Gewerkschaften gestellt haben und die sie Schritt I für Schritt, oftmals unter größten Mühen, zu', bewältigen suchen.

Ein ebenso wichtiger Bereich ihrer Tätigkeit liegt auf dem Gebiet der Sozialpolitik. Hier können wir etwa zwischen der allgemeinen Sozialpolitik und der Sozialversicherung unterscheiden.

Die allgemeine Sozialpolitik umfaßt die Regelung rechtlicher Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, insbesondere also das Arbeitsrecht, die Arbeitsverfassung, den Beschäftigungsschutz und die Arbeitsmarktgestaltung.

Die Sozialversicherung soll den Rechts- ansprach auf den Schutz der Gemeinschaft in den Wechselfällen des Lebens, also die soziale Sicherheit, gewährleisten. Wenn ein arbeitender Mensch unverschuldet in Not gerät, so soll er nicht auf die Mildtätigkeit anderer angewiesen sein oder, wie man es deutlicher ausdrücken' könnte, er soll nicht betteln gehen müssen. Er soll vielmehr auch dann ein gesichertes Dasein haben, nachdem er noch dazu selbst nach dem Prinzip des Riskenausgleiches zur Sozialversicherung beigetragen hat.

SOZIALGESETZE - FESTER BESTANDTEIL UNSERES RECHTSSYSTEMS

Das Prinzip ist klar, im einzelnen handelt es sich um eine ungeheure Fülle von Problemen. Der Österreichische Gewerkschaftsbund wendet seine besondere Aufmerksamkeit diesen Problemen zu und ergreift in sozialpolitischen Fragen die Initiative. Im Zusammenwirken mit den Arbeiterkammern wird hier im Dienste der arbeitenden Menschen unseres Landes viel geleistet, was sowohl in der Gegenwart Nutzen bringt als auch noch in der Zukunft Früchte tragen wird.

Sozialpolitische Errungenschaften der Gewerkschaften finden meist ihren Niederschlag in entsprechenden Gesetzen und sind damit — zumindest solange es starke Gewerkschaften gibt, die ihre Einhaltung kontrollieren und durchsetzen — ein fester Bestandteil unseres Rechtssystems. Was hier von Parlament, Regierung, Parteien, Kammern und Gewerkschaften geleistet wird, sind Bausteine für ein besseres, sozial gerechteres Österreich.'

Die ersten Ansätze zu einer wirklich fortschrittlichen Sozialpolitik im heutigen Sinne finden sich in der Zeit der Ersten Republik, kurz nach Ende des ersten Weltkrieges. Das damalige große sozialpolitische Werk ist untrennbar mit dem Namen des bedeutenden Gewerkschafters Ferdinand Hanusch verbunden. Nach Ende des zweiten Weltkrieges mußte vielfach auf den Trümmern unseres Staats- und Rechtswesens neu aufgebaut werden. Als Staatssekretär für soziale Verwaltung begann damit schon in der provisorischen Staatsregierung der unvergeßliche Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Johann Böhm. Ihm folgte mit zehnjähriger fruchtbarer Tätigkeit der Vorsitzende der Metall- und Bergarbeitergewerkschaft und damals auch Vizepräsident des ÖGB, Karl Maisei. Auch der jetzige Sozialminister Anton Proksch, früher als Generalsekretär des ÖGB, ist aktiver Gewerkschaftsfunktionär.

Die Kräfte, die nach sozialpolitischen Verbesserungen streben, müssen aus der Gewerkschaftsorganisation selbst kommen. Sie müssen dann im politischen Ringen ihren Ausdruck finden. Jedes einzelne Gewerkschaftsmitglied trägt zum gemeinsamen sozialpolitischen Fortschritt bei, insbesondere natürlich jeder Funktionär in Gewerkschaft und Betrieb.

Eine große und verantwortungsbewußte Organisation, wie der Österreichische Gewerkschaftsbund, braucht außer dem guten Willen zur guten Tat auch klare programmatische Richtlinien. Diese haben sich die Delegierten zweier ÖGB-Bundeskongresse selbst durch einstimmigen Beschluß gegeben. Im Oktober 1955 wurde auf dem 3. Bundeskongreß ein „Aktionsprogramm des Österreichischen Gewerkschaftsbundes“ beschlossen, das unter anderem auch detaillierte sozialpolitische Forderungen enthält. Ein Teil dieser Forderungen ist inzwischen verwirklicht worden. Im September'1959, also vor etwas mehr als einem Jahr, wurde auf dem 4. Bundeskongreß eine „Stellungnahme zur“ Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik und Kulturpolitik“ beschlossen. Sie enthält als Konzept des ÖGB die weitgesteckten sozialpolitischen Zielsetzungen.

Die bedeutenden sozialpolitischen Errungenschaften, die Ende des Jahres 1960 zustande gekommen sind, habe ich bereits erwähnt. Sie haben in den Reihen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und Angestellten unseres Landes große Zustimmung und Befriedigung ausgelöst. An der Schwelle eines neuen Jahres sei zum Ausdruck gebracht, daß die sozialpolitische Entwicklung keinen Stillstand erfahren darf. Unter den nächsten sozialpolitischen Zielen des ÖGB seien vor allem die Bestrebungen nach Kodifizierung und Verbesserung des Arbeitsrechtes erwähnt. Größte Aufmerksamkeit werden wir weiterhin den Institutionen zuwenden, die für die soziale Sicherheit zu sorgen haben. Wir werden darnach trachten müssen, daß die soziale Krankenversicherung leistungsfähig bleibt und daß die Pensionsversicherungsträger die zweite und dritte Etappe der vom Parlament beschlossenen Rentenreform durchführen können.

Im Mittelpunkt aller unserer gewerkschaftlichen und sozialpolitischen Bestrebungen steht der Mensch. Jeder Mensch soll in einem freien Staatswesen seine eigene Persönlichkeit frei entfalten können. Dazu sei ihm Förderung und Schutz zuteil. Die Gewerkschaften wollen dafür sorgen, daß das bisher Erreichte gesichert und das jeweils noch Notwendige und Mögliche erreicht werde.

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