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Reformator und Stabilisator

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Die unvermeidbaren und durchaus noch den demokratischen Regeln entsprechenden Auseinandersetzungen im österreichischen Wahlkampf 1975 mit ihren kritischen Hinweisen dürfen uns nicht übersehen lassen, daß die Sozialpolitik in Österreich — ihre Normen und ihre Praxis — einen hohen Stand der Perfektion erreicht hat und für eine ganze Welt orientierende Qualität besitzt. Das ist einer der Gründe dafür, daß es derzeit in Österreich an attraktiven sozialpolitischen Forderungen zu fehlen scheint, wozu freilich noch kommt, daß der trotz arlen Verhaltensmodellen ungemein nüchtern-skeptische Österreicher an gewissen (real-) utopischen sozialreformatorischen Experimenten keine rechte Freude zu finden vermag. Jedenfalls befindet man sich in einer Art von sozialpolitischem Forderungsnotstand, der gegenwärtig auch davon bestimmt ist, daß die Entwicklung des verfügbaren Bruttonationalproduktes nunmehr das Erreichen eines Plafonds für die Ausweitung der sogenannten Kostenden Sozialpolitik andeutet.

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Die unvermeidbaren und durchaus noch den demokratischen Regeln entsprechenden Auseinandersetzungen im österreichischen Wahlkampf 1975 mit ihren kritischen Hinweisen dürfen uns nicht übersehen lassen, daß die Sozialpolitik in Österreich — ihre Normen und ihre Praxis — einen hohen Stand der Perfektion erreicht hat und für eine ganze Welt orientierende Qualität besitzt. Das ist einer der Gründe dafür, daß es derzeit in Österreich an attraktiven sozialpolitischen Forderungen zu fehlen scheint, wozu freilich noch kommt, daß der trotz arlen Verhaltensmodellen ungemein nüchtern-skeptische Österreicher an gewissen (real-) utopischen sozialreformatorischen Experimenten keine rechte Freude zu finden vermag. Jedenfalls befindet man sich in einer Art von sozialpolitischem Forderungsnotstand, der gegenwärtig auch davon bestimmt ist, daß die Entwicklung des verfügbaren Bruttonationalproduktes nunmehr das Erreichen eines Plafonds für die Ausweitung der sogenannten Kostenden Sozialpolitik andeutet.

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Die Tatsache, daß für die Sozialpolitik Österreichs von der Stunde der Befreiung an eine ungebrochene quantitative und qualitative Expansion der Maßnahmen festgestellt werden kann, ist auf viele Ursachen zurückzuführen, so

• auf den geradezu drastischen Anstieg unseres Bruttonationalproduktes bis in die letzten Jahre,

• auf eine emotionsfreie, wenn auch durch kontroversielle x Wortspiele überdeckte Kooperation aller sozialen Großgruppen,

• und schließlich auf die Art, wie die Gewerkschaften unseres Landes seit 1945 Sozialpolitik geplant und ihre Fassung in Normen beeinflußt haben.

Der ÖGB ist ebensowenig wie seine Vorgänger in der Ersten Republik, die Richtungsgewerkschaften, an revolutionären Modellen orientiert, die den Faktor Zeit ausklammern, ebenso die Interessen jener, die nicht auf die Barrikaden steigen können.

Der Bezugsrahmen für den ÖGB, für seine „unabdingbaren“ Forderungen, war im allgemeinen das tatsächlich Verfügbare, ob dieses nun den Charakter von Geldgrößen (bei Lohnforderungen) oder von Organisationspotenz (bei Forderung nach Mitbestimmung) hatte. Auch dem magischen Postulat der Umverteilung wurde vom ÖGB die utopische Dekoration entzogen und eine sukzessive Umverteilung etwa über das Instrument der Lohnsteuer und der Sozialdotationen gemeinsam mit den Sozialpartnern durchgesetzt. Stets im Kompromiß, dem zuzuneigen, Ausweis von Demokratie ist.

Die Umverteilung in Österreich, die auch den Vorstellungen des ÖGB entspricht, hatte und hat einen wesentlichen Anteil daran, daß die Einkommenspyramide unseres Landes nicht jene provokativen Strukturen aufweist, wie sie für andere Länder kennzeichnend sind, die man in österreichischer, geradezu kindlicher Bescheidenheit gewohnt ist, als „reich“ zu bezeichnen. Die meisten „reichen“ Länder sichern sich ihre schmückende Signatur lediglich durch eine gleichzeitige Stabilisierung von Armut, wenn nicht von Elend.

Der ÖGB war stets in Denken und Aktionen pragmatisch und nicht „ideologisch“ bestimmt. Richtig („wahr“) ist nach den erkennbaren

Vorstellungen des ÖGB ein Konzept (erst) dann, wenn es den Arbeitnehmern langfristig gesicherte und spürbare Vorteile bringt. Man könnte freilich auch den Schluß ziehen, daß die den Arbeitnehmern gesicherten Vorteile durch Nachteile für die Kontrahenten der Gewerkschaften, die Arbeitgeber (vielfach ohnedies Verwalter von Kapital der Gebietskörperschaften oder diese selbst), und die Konsumenten (also auch wieder weitgehend Arbeitnehmer) kompensiert oder finanziert werden. Die Wissenschaft verfügt heute über viele verhandlungstheoretische Axiome und Hypothesen, um diese Annahme beweisen zu können. Österreich ist aber (zum Beispiel) nicht England. Weil es mit der Paritätischen Kommission — nach faktischer Liquidation des niederländischen Modells — als einziges Land ein Gremium besitzt, das ohne institutionelle Absicherung — und scheinbar gerade deswegen — die Auseinandersetzungen nicht derart eskalieren und die Bereiche der ökonomischen Vernunft überschreiten läßt wie in Ländern, in denen etwa Lohnverhandlungen vorweg als Lohnkämpfe geführt werden.

Ein international anerkannter Beweis für den Pragmatismus der Gewerkschaften in Österreich ist die Streikstrategie des ÖGB, die nach den Daten der Streikstatistik unverkennbar stets davon ausgegangen ist, daß ein Streik das letzte Instrument in einem Arbeitskonflikt sein soll. Soweit es seit 1945 in Österreich Streikaktionen gegeben hat, waren sie fast alle lokal (einzelbetrieblich) eingebunden und weitgehend sachlich begründet. Die nichtöffentlichen Streikadressaten waren überdies fast durchwegs NichtÖsterreicher, die nicht selten in einer dem Stil österreichischer Unternehmer widersprechenden Weise versuchten, ihre Arbeitnehmer in der Art von „Eingeborenen“ zu behandeln, oder über die Konfliktursachen so gut wie nicht informiert waren.

Man hat dem ÖGB vorgehalten — in Einzelfällen vielleicht mit Recht —, daß er sich einer sozialistischen Re-' gierung gegenüber geradezu gefügig zeige; auch dann, wenn es den Anschein habe, daß Aktionen der Regierung den Interessen der Arbeitnehmer widersprächen. Nun müßte man aus diesem Hinweis den Schluß ziehen, daß der ÖGB zu einer nichtsozialistischen Regierung in unbedingter Oppositon stehe. Das war aber in der Zeit der Alleinregierung der ÖVP nicht der Fall, ein Sachverhalt,- der aber gleichzeitig auch geeignet ist, die Qualität der sozialpolitischen Konzepte der Regierung Josef Klaus und des Ressortministers (BdM. Grete Rehor) zu bestätigen. Anderseits wird es stets zu einem Loyalitätskonflikt führen, wenn Regierung und Gewerkschaftsspitze der gleichen Partei angehören. Es bedarf sicherlich eines heroischen Entschlusses, wenn der parteigebundene Funktionär einer Gewerkschaft gegen seine in der Regierung befindlichen Parteifreunde entscheiden muß.

Jede Gewerkschaft stellt sich der Öffentlichkeit, und ganz besonders nachdrücklich ihren Mitgliedern, in Form von Forderungen, vor allem an die Verwalter der Lohnfonds, dar. Lediglich in Diktaturen sind Gewerkschaften ein Rechtfertigungsinstrument der jeweiligen Junta. Wie nun der ÖGB bei seinen Forderungen maßzuhalten versteht, kann bei einem Vergleich der Höhe der Lohnforderungen in Österreich mit jenen in anderen Ländern festgestellt oder vom Rang der österreichischen Inflationsrate auf der internationalen Inflationsskala abgelesen werden, die wesentlich durch die jeweiligen Lohnsteigerungstangenten bestimmt ist.

Nicht selten und keineswegs zu Unrecht wird vom ÖGB behauptet, daß er Handlungen setzt, die man mit Gesellschaftspolitik (Hochgebildete sagen: „Systemveränderung“) zu kennzeichnen sucht und den Charakter syndikalistischer Dominanz annehmen können (siehe Syndikalismushypothese, Axiom des Gewerkschaftsstaates). Ganz abgesehen davon, daß keine (beabsichtigte) Gesellschaftspolitik schließlich auch eine Gesellschaftspolitik ist und der sozioökonomische Prozeß unverkennbar eine Eigendynamik entwickelt hat, die geradezu natürlich zu makrosozialen Wandlungen führen: Jede Sozialpolitik zielt nun einmal auf die Änderung gesellschaftlicher Beziehungen, etwa von Einkommensstrukturen, von Arbeits-Zeit-budgets und der Wirkung von Standardrisiken auf das Haushaltsbudget. Wer Sozialpolitik will, bestätigt zumindest indirekt die Rechtfertigung von Gesellschaftspolitik. Nehmen wir als Beispiel lediglich die Ausweitung der solidarisch-obligatorischen Altersversicherung mit ihrer beachtlichen Verringerung des ökonomisch begründeten Altersnotstandes. Die Tatsache, daß wir bereits eine derart hohe Quote an pflichtig Pensionsversicherten haben, daß man fast von einer Volkspension sprechen könnte, ist nun einmal ein gesellschaftspolitischer Effekt. Man kann jedenfalls nicht die Sozialpolitik positiv beurteilen und gleichzeitig die mit ihren Maßnahmen unvermeidbar in einem Interdependenz-verhältnis befindlichen Veränderungen in der Gesellschaft ablehnen.

Völlig anders wäre dagegen die Beurteilung einer Gesellschaftspolitik des ÖGB, würde sich dieser deklariert für eine Revolutionierung der Eigentumsordnung aussprechen, etwa für eine totale formale oder materielle Enteignung zugunsten der Interessen einer Funktionärskaste, beginnend beim Eigentum an Produktionsmitteln (Fabrikant bis Schustermeister), beim Wohnungseigentum (selbstverständlich unter Ausklammerung der Funktionärsvillen) und endend beim Kochgeschirr und bei der Unterwäsche. In diesem Fall, vor allem bei Forderung nach totaler Verstaatlichung der Produktionsmittel, käme dies einer Selbstaufgabe der Gewerkschaften gleich, die ohne Adressaten, ohne „Gegner“, funktionslos und zu vom „Gegner“ abhängigen Instrumenten einer diktatorischen oder einer polyarchisch herrschenden Pölitkaste würden.

Zuweilen vertreten Autoren in Publikationen der Gewerkschaften Ansichten, die man als radikal abqualifizieren kann. Stets ist aber — angesichts der Meinungsfreiheit in der Gewerkschaftspresse — zu fragen, ob die Verfasser von Verbalradikalismen im eigenen Namen oder offenkundig im Namen der Führung des ÖGB schreiben.

In seiner Praxis und in offiziellen Proklamationen hat der ÖGB einem sich intellektuell gebenden Radikalismus kaum je Raum gegeben und ihn stets auf die publizistische Spielwiese verwiesen, wo andere Verhaltensregeln herrschen als in der Wirklichkeit der sozialpolitischen Auseinandersetzungen.

Auch etwaige Anarcho-Radikalis-men im Kernbereich des ÖGB sind für diesen nicht kennzeichnend. Schließlich kann man eine Organisation, in deren Namen auf vielen Rängen tausende Funktionäre sprechen, nicht lediglich von Randerscheinungen her beurteilen; tut man dies, stellt man sich mit jenen auf die gleiche Stufe, die etwa die Kirche ausschließlich auf Grund der Summe von in 2000 Jahren angehäuften „Krankheiten“ beurteilen (und diese Anhäufung dann „Kirchengeschichte“ nennen).

Der revolutionäre Enthusiasmus, wie in jeder Gewerkschaftsbewegung auch im ÖGB vorhanden, war da, wo er von Gewerkschaften aktiviert wurde, stets durch Bedachtnahme auf Realvorteile und die wahrscheinliche Dauer ihrer Nutzung, im Sinn der Orientierung an einer Umwegsrentabilität, diszipliniert.

Bei einer sozialreformatorischen Neuordnung kommt es nicht auf die verbalen Dekorationen und auf eine Anpassung der Praxis an eine fern der Wirklichkeit konzipierte Theorie an, sondern darauf, ob jenen, die in Elend, Not oder zumindest Armut waren, nunmehr nicht allein Überlebens-, sondern Lebenschancen verfügbar sind, oder ob etwa Löhnge-rechtigkeit (als Verkehrsgerechtigkeit) in allen Positionsrängen geradezu institutionell abgesichert ist.

Der 8. Bundeskongreß des ÖGB soll nicht allein als eine Routineveranstaltung registriert, sondern auch Anlaß dafür sein,

• dem ÖGB als Institution und

• den Menschen, die ihn verantwortlich führen, ebenso zu danken

• wie jener verstorbenen Führer des ÖGB zu gedenken, die mitgeholfen haben, die Annahme, daß Österreich den Charakter eines Sozialstaates habe, subtantiell abzusichern.

Auch bei Gefahr, der literarischpanegyrischen Übertreibung bezichtigt zu werden, behaupte ich: Wenn Österreich sich der Kennzeichnung als Sozialstaat bedienen kann, dann hat an dieser Konstitution der ÖGB einen hohen Anteil; er ist sowohl Reformator als Stabilisator der Gesellschaft unseres Landes.

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