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Digital In Arbeit

„Humanisierung“

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Der Erfolg fortschrittlicher Wirtschaftspolitik wird danach beurteilt, wie weit es ihr gelingt, folgende drei Ziele zu erreichen: Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum und Preisstabilität. Fachleute bezeichnen diese drei Ziele als das „Magische Dreieck“, weil es noch nie möglich war, sie hundertprozentig zu erfüllen, man kann sich ihnen nur weitgebend nähern. Der wirtschaftliche Fortschritt muß aber auch daran gemessen werden, ob er in schweren Arbeitskonflikten erkämpft oder in einer stetigen friedlichen Aufwärtsentwicklung erreicht wurde.

Wie gut ist das in letzter Zeit in Österreich gelungen? Im vergangenen Jahr konnten wir mit mehr als 2,5 Millionen Beschäftigten einen neuen Vollbeschäftigungsrekord verzeichnen, die gute Beschäftigungslage hält auch jetzt noch an, in diesem Winter gab es die niedrigste Arbeitslosenrate, die Österreich je zu dieser Jahreszeit hatte.

Was das Wachstum des Kuchens anlangt, der verteilt werden kann, so lagen wir 1971 gemeinsam mit Frankreich mit 5,5 Prozent Zunahme des realen Bruttonationalproduktes an der Spitze der westeuropäischen Industriestaaten. Wir rechnen auch heuer damit, daß das Wirtschaftswachstum mehr als vier Prozent betragen wird, was angesichts der Konjunkturabkühlung in anderen Ländern noch immer beträchtlich über dem internationalen Durchschnitt liegen wird.

Vollbeschäftigung und Hochkonjunktur haben aber auch weniger erfreuliche Folgen. Österreich ist ein stark exportorientiertes Land, das sich von der internationalen Entwicklung nicht abkapseln kann.

Das hat dazu geführt, den in der Hochkonjunktur üblichen Preisauftrieb zu verstärken. Ein Problem, das uns Gewerkschaftern ernste Sorgen macht. Der Index der Verbraucherpreise stieg im Vorjahr um 4,7 Prozent und wird auch heuer kaum unter der Fünfprozentmarke liegen. Der Gewerkschaftsbund hat der Regierung und den Wirtschaftspartnern ein Paket von preis- und konjunk-turpolitischen Maßnahmen vorgeschlagen, um den Inflatiensprozeß einzudämmen und unter Kontrolle zu halten.

Die Durchsetzung dieses Rezeptes wird allerdings nicht leicht sein. Die österreichischen Gewerkschaften begnügen sich jedoch selbstverständlich nicht mit der Rolle des Ratgebers. Durch eine aktive gewerkschaftliche Lohnpolitik wollen sie die Kaufkraft der Arbeitnehmer verbessern. Diese Lohnpolitik orientiert sich nach zwei Daten, nach der möglichen Produktivitätssteigerung plus der Abgeltung für die Teuerung. 1971 wurden die Löhne und Gehälter durchschnittlich um zwölf Prozent erhöht. Zieht man Teuerungsrate und Belastung durch die Steuerprc-gression davon ab, so wurde eine Erhöhung der Reallöhne um rund vier bis fünf Prozent erreicht. Gegenwärr tig findet in Österreich eine große Lohnrunde statt, in der über die Lohnforderungen von rund 900.000 Arbeitern und Angestellten verhandelt wird, rechnet man die bereits fixierten Gehaltserhöhungen der

üffentlich Bediensteten hinzu, so werden etwa ab Mitte dieses Jahres rund 1,5 Millionen Arbeitnehmer mit äer Erhöhung ihrer Löhne rechnen sonnen.

Die Aufwärtsentwicklung unserer Wirtschaft ist in friedlichen Bahnen verlaufen. Die jüngste Streikstatistik über das Jahr 1971, in dem es die wenigsten Streiks seit dem Bestehen äer Zweiten Republik gab, ist ein neuerlicher Beweis darfür.

Die Voraussetzung für den wirtschaftlichen Fortschritt und für die Erhaltung des sozialen Friedens ist ias in Österreich praktizierte System ier Wirtschaftspartnerschaft. Diese Zusammenarbeit zwischen Unter-lehmer- und Arbeitnehmerorganisa-;ionen beruht meiner Meinung nach auf drei Grundlagen: Erstens haben Deide Teile aus den schlimmen Erfahrungen der Ersten Republik ihre Lehren gezogen. Zweitens stehen len mächtigen Unternehmerverbän-len ebenso starke Gewerkschafts-Drganisationen gegenüber. Und drittens ist man sich darüber einig, daß äs zwischen den Klassen nicht nur latürliche Gegensätze gibt, sondern auch gemeinsame Interessen.

Die Paritätische Kommission, vor 15 Jahren als ein Provisorium gegründet, ist inzwischen zu einem licht mehr wegzudenkenden Bestandteil dieser erfolgreichen Zusammenarbeit geworden. Wenn wir ans andere europäische Länder ansehen, so muß man feststellen, daß ine radikale Form der Austragung von Arbeitskonflikten den Lebensstandard der Arbeitnehmer nicht verbessert. Der ÖGB wird daher auch in Zukunft für die Zusammenarbeit der Wirtschaftspartner ernteten.

Der ÖGB wird sich auch in nächster Zeit mit aller Entschiedenheit äafür einsetzen, das Recht der Ar-Deitnehmer auszubauen, im Betrieb und in der Wirtschaft mitzubestimmen. Für die gewerkschaftliche Kollektivvertragspolitik wird dabei die Humanisierung der Arbeitswelt ein Anliegen ersten Ranges sein. Das Dberste Ziel wird für die österreichischen Gewerkschafter die Erhaltung äer Vollbeschäftigung bleiben. Wir verstehen darunter nicht, jeden Ar-oeitsplatz, auch den veralteten und unrationellen, sozusagen mit Zähnen _md Klauen zu verteidigen. Was wir fordern, heißt, daß jeder, der es wünscht, Arbeit findet und für seine Arbeit gerecht entlohnt wird.

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