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Digital In Arbeit

Mindestlohn Nur Illusion?

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ZUR DISKUSSION Eine sozialpolitische Illusion für den einen, ein soziales Muß für den anderen, um einen menschenwürdigen Mindestlebensstandard zu garantieren: der 10.000 Schilling - Mindestlohn.

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ZUR DISKUSSION Eine sozialpolitische Illusion für den einen, ein soziales Muß für den anderen, um einen menschenwürdigen Mindestlebensstandard zu garantieren: der 10.000 Schilling - Mindestlohn.

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Die Unternehmer in Österreich sind weder sozialpolitische Tief- stapler noch Bremser, wenn es um europareife Nettolöhne in unserem Land geht. Wir halten es für ver- nünftig, daß in Österreich keine Vollzeit-Arbeitskraft in einem überschaubaren Zeitraum weniger als 10.000 Schilling im Monat ver- dient. Doch bei diesem einkom- menspolitischen Ziel müssen Lohn- nebenkosten und Konkurrenzfähig- keit der österreichischen Wirtschaft berücksichtigt werden; außerdem ist die Verwirklichung dieses Ziels Angelegenheit der Sozial- und Kollektiwertragspartner. Das wird umso rascher funktionieren, als die Rahmenbedingungen für unsere Unternehmen verbessert und die Wettbewerbsfähigkeit weiter ge- stärkt wird. Das gilt vor allem für strukturschwache Branchen, wie die Textilindustrie, für Nahversor- gungsbetriebe, für die Tourismus- wirtschaft und für Betriebe in wirt- schaftlich schwachen Grenzregio- nen. Dort würde der Staat Min- destlöhne diktieren, während viele dieser Betriebe aus Kostengründen zusperren müßten. Dann gibt es vielleicht auf dem Papier einen Min- destlohn, gleichzeitig aber nimmt die Zahl der Arbeitslosen zu.

Auch ÖGB-Präsident Fritz Ver- zetnitsch vertrat diese - wie ich meine - realistische Auffassung. In einem Interview mit den „Salzbur- ger Nachrichten" im September 1989 meinte Präsident Verzetnitsch wörtlich: „Es wäre reizvoll zu sa- gen: 10.000 Schilling Mindestlohn für alle. Ich persönlich aber verfol- ge die Auffassung, unser Ziel muß die Vollbeschäftigung sein. Denn was nutzt es mit, wenn in einem Be- reich die Betriebe zusperren und ich keine Alternative dafür habe." Nun hat sich der ÖGB-Präsident aber in die Reihe jener gestellt, die für einen 10.000-Schilling-Min- destlohn eintreten.

Sogar der Lohnexperte des Wirt- schaftsforschungsinstitutes, Alois Guger, warnte davor, in Österreich Mindestlöhne per Gesetz einzufüh- ren. Ausländische Erfahrungen zeigen nämlich, daß in Ländern mit gesetzlichen Regelungen das Lohn- niveau zurückbleibt. Als Beispiel führte Guger die USA an, wo die gesetzlichen Mindestlöhne seit neun Jahren unverändert blieben.

Wir sind das Land mit den höch- sten Lohnnebenkosten, mit den höchsten Abfertigungen, mit den meisten Feier- und Urlaubstagen und mit den strengsten Kündi- gungsvorschriften. Wenn wir bei den Lohnnebenkosten auf westeu- ropäisches Niveau zurückfinden, wird es keine unüberwindbaren Schwierigkeiten geben, auch Min- destlöhne in Höhe von 10.000 Schil- ling im Monat zu zahlen.

Ein hohes Mindestlohnniveau teilt den Arbeitsmarkt in zwei Klassen: in Arbeitnehmer, die zu den geltenden Bedingungen Be- schäftigung finden, und in Ar- beitnehmer, die eben wegen dieser Bedingungen keine Chancen auf einen Arbeitsplatz haben.

Wenn das Lohnniveau nach un- ten gesetzlich abgesichert ist, ha- ben die Unternehmen in schwachen wirtschaftlichen Konjunk- turphasen nur noch die Möglich- keit der Freisetzung von Ar- beitskräften. Eine Lohnanpassung an die wirtschaftliche Entwicklung ist ihnen von Gesetzes wegen ver- wehrt.

Gesetzlich normierte Mindest- löhne könnten Jugendliche ver- leiten, gleich nach dem Pflicht- schulabgang Posten als Hilfsar- beiter anzunehmen und dort zum Mindestlohn bezahlt zu werden. Der ungelernten Arbeitskraft winkt somit ein schneller Verdienst, der über dem liegt, was ein Pflicht- schulabgänger in den Jahren seiner Berufsausbildung erreichen kann. Diese negative Wirkung von Min- destlöhnen auf das Ausbildungsni- veau der Arbeitskräfte läßt sich belegen am Beispiel anderer Indu- strieländer. Mindestlöhne werden vor allem in „Niedriglohnländern" bezahlt (Portugal, Griechenland, auch Spanien) und in Industrielän- dern mit einem hohen Anteil an un- gelernten Arbeitskräften (USA, Großbritannien). Die dort fest- gelegten Mindestlöhne sind aber bedeutend niedriger als die bei uns angesetzte Forderung.

Für mich ist der Wunsch nach einem Mindestlohn von 10.000 Schilling durch alle Branchen und Regionen durchaus ein erstrebens- wertes einkommenspolitisches Ziel. Seine Verwirklichung hängt aber mittelfristig von drei Dingen ab: von der Fortsetzung der erfolgrei- chen Wirtschaftspolitik der letzten Jahre, von einer Entlastung der Wirtschaft im Bereich der Lohn- nebenkosten und der Bürokratie sowie von den wirtschaftlichen Rea- litäten in den einzelnen Branchen, über die die Sozialpartner zu befin- den haben. Einen mit Gesetz ver- ordneten Mindestlohn aber wür- den wir aufs entschiedenste be- kämpfen.

Und noch etwas: Die Zielsetzung, in einem überschaubaren Zeitraum ein Mindesteinkommen von 10.000 Schilling zu erreichen, steht, um nicht noch größere Ungerechtigkei- ten zu schaffen, nicht nur für Ar- beitnehmer, sie muß auch für Bau- ern, Gewerbetreibende und Be- zieher von kleinen Pensionen gel- ten.

Der Autor ist Präsident des Wirtschaftsburides der ÖVP.

So erfreulich die über Initiative von Bundesparteiobmann Jo- sef Riegler zustande gekommene Festlegung auf einen Mindestlohn von 10.000 Schilling brutto auch ist - die Diskussion darüber hätten wir längst führen und die Idee gemein- sam durchtragen können. Schließ- lich ist sie im Grundsatzprogramm der Volkspartei verankert, in dem es heißt, daß „die ÖVP ihren politi- sehen Gestaltungswillen aus einem christlich begründeten Verständnis von Mensch und Gesellschaft ab- leitet".

Die Christliche Soziallehre ist also angesprochen und somit einige ihrer Grundpfeiler: das „Recht auf Arbeit", die „Pflicht zur Leistung" - vor allem aber auch das „Recht auf den Ertrag durch eigene Ar- beit". Genau dieser letzte Satz ist die Forderung nach einem Mindest- lohn durch Arbeit als Gegensatz zur sozialistischen Idee eines Basi- seinkommens ohne Arbeit!

Wenn es „Arbeit für alle" geben soll, darf die Diskussion um eine Neuverteilung der Arbeit kein Tabu sein. Ohne vordergründige ideolo- gische Schranken ist die Frage zu stellen, in welchen Bereichen eine gerechtere Verteilung der Arbeit und des Ertrages der Arbeit mög- lich und sinnvoll erscheint. Denn durch die Entwicklung und Ein- führung neuer Technologien ändern sich bisherige Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt in ungeahntem Ausmaß - und damit entstehen völ- lig geänderte gesellschaftspoliti- sche Dimensionen.

Gerade in einer Zeit, in der es glücklicherweise viele Gewinner gibt, ist es ein Gebot der Solida- rität, sich um die Verlierer zu kümmern. Wenn man die Vorzüge einer Marktwirtschaft nützen kann - das ist in Österreich der Fall -, dannn sollte man auch ihre sozia- len Aspekte hervorstreichen.

Die Sozialpartner und der Staat könnten die historische Chance wahrnehmen, vom „Lohnpakt zum Solidaritätspakt", wie es Pater Johannes Schasching von der Gre- goriana-Universität Rom einmal formuliert hat, zu kommen.

Das heißt: Änderung der Ein- kommensverteilung durch eine neue Lohnpolitik zugunsten jener stei- genden Minderheit, die mit ihrem Einkommen einfach nicht mehr auskommen kann. Ich bekenne mich zur Differenzierung, aus vielen wichtigen Gründen - insbesondere auch der Leistungsgerechtigkeit - muß es sie geben. Aber die Schere ist schon zu weit offen. Die Kluft ist zu groß, in der sozialen Grund- struktur stimmt etwas nicht.

Die Lohnpolitik der letzten zwan- zig Jahre haben die Sozialpartner zu verantworten. Es gibt erschrek- kende Einkommensunterschiede in Österreich.

415.000 vollzeitbeschäftigte Ar- beitnehmer (das sind 16 Prozent der unselbständig Beschäftigten ohne Beamte) bekommen derzeit weniger als 8.000 Schilling auf die Hand (10.000 brutto). Und zwar 275.000 Frauen (das ist fast ein Viertel aller Arbeitnehmerinnen) sowie 140.000 Männer (jeder zehn- te berufstätige Mann).

Ein Mindestlohn bedeutet eine Garantie für einen einigermaßen annehmbaren menschenwürdigen Mindestlebensstandard. Es ist ein Schritt im Kampf gegen die Armut und einer gerechteren Entlohnung für geleistete Arbeit. Wenn wir als Sozialstaat in der Lage sind, eine doch beachtliche Arbeitslosenun- terstützung zu leisten (sie beträgt bei Männern im Durchschnitt immerhin 7.085 Schilling netto ohne Zulagen beziehungsweise maximal 11.244 Schilling netto), dann dür- fen erstens diese beiden Gruppen gegeneinander nicht ausgespielt werden - leider gibt es solche Ver- suche - und müßte es doch zweitens möglich sein, den Lohn für die Arbeit der Höhe nach neu zu be- werten.

Ich bin mir bewußt, daß ein Min- destlohn kein Allheilmittel gegen soziale Minderprivilegierung ist, aber es ist ein Ansatz, Benachteili- gung abzubauen. Insbesondere die Wirtschaft bringt in der Diskus- sion immer Argumente vor, warum unsere Forderung nicht erfüllt werden kann. Viel wichtiger wäre eine Debatte, die Wege aufzeigt, wie wir das gemeinsame Ziel errei- chen können, menschliche Arbeit zumindest ansatzweise menschen- würdig zu entlohnen. Denn darum geht es ja ganz besonders.

Mindestlöhne gibt es übrigens in Staaten, deren Wirtschaft zu Recht heute als besonders dynamisch gilt: In den USA - zur Zeit wird heftig über die Erhöhung des Mindestloh- nes in den Vereinigten Staaten dis- kutiert - in Kanada, in Japan. Mindestlöhne gibt es auch in zahl- reichen hochentwickelten westli- che Industriestaaten wie Belgien, Frankreich, Großbritannien und in den Niederlanden. Freilich läßt sich über Form und Höhe immer strei- ten, aber man hüte sich vor voreili- gen Vergleichen. Schließlich sind in den genannten Ländern die Arbeitszeiten (teilweise), aber auch die Arbeitskosten in der Industrie anders. Bei den Lohnnebenkosten liegen wir zwar im Schnitt höher, aber bei den Arbeitskosten insge- samt - und nur so kann man eine Gesamtsicht objektiv anlegen - mit rund 177 Schilling pro Stunde im Mittelfeld. Die höchsten Arbeits- kosten gibt es nämlich in der Schweiz und in der BRD, und auch die USA, Japan, Dänemark, die Nie- derlande und Schweden liegen höher. Hinter uns liegen unter anderem Italien, Frankreich, Irland, Großbritannien und Spanien.

Der Autor ist Landessekretär des OAAB Stei- ermark. Beide Beiträge sind auszugweise den „Österreichischen Monatsheften 2/90" entnom- men.

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