Auch Arbeit schützt nicht mehr vor Armut

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Die Vorhaben der Regierung unterstützen bisherige Fehlentwicklungen und die Zwangsbeschäftigung wird zum sozialen Abstellgleis für Benachteiligte.

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Die Vorhaben der Regierung unterstützen bisherige Fehlentwicklungen und die Zwangsbeschäftigung wird zum sozialen Abstellgleis für Benachteiligte.

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Die Debatte. Zerreißt das soziale Netz?

Zum Thema. Zur Arbeit zwingen?

Aktuelle Arbeitsmarktdaten zeigen einen Rückgang in den Arbeitslosenzahlen, den die neue Regierung schon als ersten Erfolg ihrer Politik reklamiert. Das wäre ja schnell gegangen, und ob das stimmt, sollen Regierung und Opposition ausstreiten. Ganz sicher ist der positive Trend noch keine Auswirkung des geplanten "Bürgergeldes".

Langzeitarbeitslose sollen damit Arbeit erhalten. Die Palette reicht von Schneeschaufel-Diensten für Gemeinden über Arbeit im Denkmal- und Umweltschutzbereich bis zu Einsätzen in der Kranken- und Altenbetreuung. Dabei würden jene 1.500 Schilling, die der Dienstgeber im Monat zu zahlen hätte, auf die Notstandshilfe von 7.500 Schilling aufgeschlagen. In der Furche-Debatte wird über diese und andere sozialpolitische Maßnahmen diskutiert. WM Eine Mutter, alleinerziehend, 40 Jahre alt. Sie arbeitet als Ordinationsgehilfin. Auf Grund von Sparmaßnahmen wird sie gekündigt. Das Arbeitsamt vermittelt ihr eine Stelle, die einen Arbeitsweg von täglich 200 Kilometer - und niedrigem Einkommen - zur Folge hat. Bei Nichtannahme würde ihr die Notstandshilfe gestrichen werden. Als die Tochter einmal länger krank wird und sie keine Kinderbetreuung organisieren kann, hält sie dem beruflichen und psychischen Druck nicht mehr stand und kündigt. Das Arbeitslosengeld kann ihre Existenz - und die ihrer Tochter - nicht sichern.

Es war schon bisher für Tausende, die eine ähnliche Geschichte haben, nicht lustig. Das FPÖVP-Regierungsübereinkommen beginnt mit der Feststellung, daß "die Sozialleistungen eine soziale Existenzsicherung garantieren". Diese Analyse widerspricht allen verfügbaren empirischen Daten. In Österreich haben im Gegensatz zu einer Anzahl von EU-Ländern die Arbeitslosenleistungen kein Mindestniveau. In der EU koppeln einige Staaten wie Dänemark, Niederlande, Portugal, Spanien das Mindestarbeitslosengeld an einen Mindestlohn, in anderen Ländern wie Belgien, Griechenland, Frankreich, Finnland und Schweden sind Mindestsätze festgelegt. Diese variieren zwischen 180 Schilling am Tag im Fall Griechenlands und 385 Schilling pro Tag in Schweden. Großbritannien und Irland zahlen Pauschalbeträge unabhängig vom vorherigen Erwerbs-einkommen. In Österreich ist der niedrigste Tagsatz 58,50 Schilling. Diese Höhe kann nicht als armutsvermeidend angesehen werden.

Arbeit schützt vor Armut nicht. In unseren Sozialberatungsstellen sind wir immer mehr mit Menschen konfrontiert, die arbeiten und trotzdem nicht genug zum Leben haben. 200.000 Personen, davon 93.000 Kinder, leben in Haushalten, wo unselbständige Erwerbstätigkeit und akute Armut gleichzeitig vorliegt. Diese neuen "Working poor" arbeiten Teilzeit, geringfügig, in Leiharbeit oder als Scheinselbständige. Der Trend atypischer Beschäftigung ist unumkehrbar und muß deshalb auch sozialpolitisch gestaltet werden. Neue Arbeitsformen brauchen neue soziale Antworten.

Auch die für die Armutsbekämpfung dringend notwendige Reform der Sozialhilfe ist der Regierung kein Anliegen. Die Sozialhilfe weist keine bundeseinheitlichen Standards auf, verstärkt die Stigmatisierung der Betroffenen und ist durch das Fehlen klarer Regelungen anfällig für Willkürentscheidungen der Ämter. Während die Zahl der von Arbeitslosigkeit Betroffenen in den letzten Jahren massiv angestiegen ist, sinkt die Zahl der Empfänger offener Sozialhilfe. Wer Anspruch auf Sozialhilfe hat, bekommt sie deswegen also noch lange nicht.

Das Einfrieren der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist sozialpolitisch unklug. Österreich lag da bisher schon im Schlußfeld europäischer Staaten. Die Einführung von Zwangsbeschäftigung für Langzeitarbeitslose ist in dieser Form europäisch einzigartig und wenig sinnvoll. Das ist ein soziales Abstellgleis für Benachteiligte, haut den Arbeitsmarkt im Umwelt- und Sozialbereich zusammen, vernichtet flächendeckend erworbene Qualifikationen, vermischt hilfebedürftige Gruppen und untergräbt den Kollektivvertrag. Völlig unklar ist, was mit den vielen Schwervermittelbaren - Alkoholkranke, Obdachlose, Behinderte - passiert. Viel sinnvoller wäre die Unterstützung von Projekten am zweiten Arbeitsmarkt, die Forcierung von Qualifikationsmaßnahmen, wo diejenigen, die das Tempo am ersten Arbeitsmarkt nicht halten können, wieder Tritt fassen.

Skurril wird es, wenn der Zwanzig-Prozent-Aufschlag den Namen "Bürgergeld" erhält. Zwangsbeschäftigung hat nichts mit Bürgergesellschaft zu tun. Das ist eine obrigkeitstaatliche Maßnahme, die unverträglich ist mit dem freien Engagement der Zivilgesellschaft.

Der Autor arbeitet als Sozialexperte bei der Diakonie Österreich.

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