SESSELTANZ in die Arbeitslosigkeit

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Lassen gekürzte Sozialleistungen die Arbeitslosenzahlen sinken? Ein Gastkommentar über Vorurteile und Tatsachen punkto Mindestsicherung.

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Lassen gekürzte Sozialleistungen die Arbeitslosenzahlen sinken? Ein Gastkommentar über Vorurteile und Tatsachen punkto Mindestsicherung.

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Musik aus. Alle laufen rund um die Sessel in der Mitte. Wenn die Musik aufhört, muss schnell ein Sitzplatz ergattert werden. Nach jeder Unterbrechung wird ein weiterer Sessel weggeräumt, der Kampf um die Restplätze wird heftiger, manche sind einfach nicht mehr schnell genug - ausgeschieden.

Was bei der "Reise nach Rom" gespielt wird, erinnert an manche aktuelle Ideen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Trotz Studien, die das Gegenteil belegen, gelten "Mindestsicherung kürzen" und "Arbeitslosengeld runter" nach wie vor als probates Mittel gegen steigende Arbeitslosenzahlen und werden als solches von Politikern, Think-Tanks und Kommentatoren verbreitet. Niedrigere Arbeitslosenleistungen seien genau die richtige Politik, um einer falschen Wahrnehmung und letztlich auch der Faulheit der Betroffenen entgegenzuwirken, heißt es. Was aber, wenn es sich bei den Einwänden dagegen um die richtige Wahrnehmung einer falschen Politik handelt?

Abstandsgebot als Ungeheuer von Loch Ness

Diese Politik beruht auf dem sogenannten "Abstandsgebot" mit angeschlossenem "Armutsfallen-Theorem", das besagt, dass der Unterschied zwischen Einkommen aus Erwerbsarbeit und Sozialleistungen nicht zu gering sein dürfe, weil die Betroffen sonst keine Arbeit annehmen würden. Niedrige Sozialleistungen seien deshalb in deren eigenem Interesse, weil sie sonst viel zu lange von Sozialhilfe abhängig bleiben, träge werden und verelenden. Die Forschung widerlegt diese Annahme seit Jahren, was ihrer Popularität jedoch keinen Abbruch tut. Eine Mischung aus "gesundem Vorurteil" und neoklassischer Modelltheorie hat sich zu einer Seinsgewissheit verbunden, die sozialempirische Daten als Modellstörung empfindet. Mit dem Abstandsgebot ist es wie mit dem Ungeheuer von Loch Ness: Wir haben so oft davon gehört, dass wir es praktisch schon gesehen haben.

Doch bleiben wir bei den Tatsachen. Falsch ist zunächst die Annahme, dass alle Mindestsicherungsbezieher dies ewig bleiben. Die Verweilzeit in der Mindestsicherung beträgt durchschnittlich acht Monate, für 20 Prozent weniger als drei Monate. Und: Der Abstand zwischen Mindestsicherung und Erwerbseinkommen erklärt die Arbeitsaufnahme nicht. Familien mit Kindern sind schneller aus der Sozialhilfe draußen als Alleinstehende, obwohl erstere aufgrund der Kindergelder höhere Sozialleistungen erhalten. Der Abstand zwischen dem aus Erwerbsarbeit erzielbaren Einkommen und dem Sozialhilfeanspruch ist bei Alleinverdienerinnen ohne Kinder am größten, bei Familien mit einem oder einer Alleinverdienerin und mehreren Kindern geht er gegen Null. In der Logik des Abstandsgebots müsste es so sein, dass der Sozialhilfebezug bei Alleinstehenden am kürzesten, bei Alleinverdienern mit mehreren Kindern am längsten in Anspruch genommen wird, denn Erstere verbessern ihre Einkommenssituation durch Arbeitsaufnahme stark, Letztere dagegen kaum oder gar nicht. Das Gegenteil jedoch ist der Fall: Die Verweildauer in Sozialhilfe ist bei Alleinverdienern mit mehreren Kindern am kürzesten.

Der Sozialwissenschafter Wolfgang Voges kommt nach einem Vergleich von Daten aus zehn verschiedenen Städten Europas zum Schluss, dass nicht durch hohe Sozialleistungen Armutsspiralen entstehen, sondern durch niedrige. Dasselbe Ergebnis errechnet Robert Goodin für die Situation in den Niederlanden und in Deutschland. Im Vergleich zu den USA kommt er zum Ergebnis, dass trotz höherem Arbeitslosengeld in Deutschland und niedrigerem in den USA Betroffene in den USA länger brauchen, um wieder einen Job zu finden. Eine weitere Studie, die vom Oslo and Akershus University College aktuell in 18 Ländern durchgeführt wurde, zeigt, dass die Motivation, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, mit zunehmender Großzügigkeit des Wohlfahrtsstaates steigt. Dass wegen zu geringem Abstand zwischen Sozialleistung und zu erwartender Löhne keine Erwerbstätigkeit aufgenommen würde, wird auch durch Längsschnittdaten nicht bestätigt. Die Hallenser Längsschnittstudie von Sozialhilfeempfängern und das Sozio-Ökonomische Panel widerlegten empirisch, was anekdotisch so sicher scheint. Arbeiten wie jene des deutschen Soziologieprofessors Georg Vobruba zeigen deutlich, dass Sozialhilfebezieher ihre Entscheidungen "keinesfalls auf der Grundlage kurzfristiger Einkommenskalküle treffen". Auch die Ergebnisse aus dem Niedrigeinkommenspanel (NIEP), das es erlaubt, den gesamten unteren Einkommensbereich der deutschen Wohnbevölkerung zu studieren, weisen in dieselbe Richtung. "Die Forschungsergebnisse geben keinerlei Anlass zu der Annahme, den Menschen im unteren Einkommensbereich würde es in weiten Teilen an der notwendigen Eigeninitiative mangeln. Im Gegenteil: Auf diesem Aktivitätspotential sollte das institutionelle Hilfeangebot aufbauen", so die Studienautoren Hans Jürgen Andreß und Anne Krüger.

Neben Einkommensfragen spielen für den Sprung in die Erwerbsarbeit auch immaterielle Aspekte wie die Stigmatisierung durch Arbeitslosigkeit, Belastungen in Beziehungen und die Frage der Betreuung von Kindern eine Rolle. Das Leben ist keine Reiz-Reaktions-Schachtel. Das läuft an der Komplexität des Lebens vorbei. Auch in den Wirtschaftswissenschaften ist die Idee des "Homo Öconomicus" seit der Finanzkrise ins Wanken geraten - also die Vorstellung, dass sich Menschen nach Abwägung aller Informationen nur dem rationalen Nutzen verpflichtet verhalten. Die Verhaltensökonomie widerlegt diese Annahmen als Fiktion. Menschen sind weder rein rational, noch völlig eigennützig, noch haben sie unbeschränkte Willenskraft. Sie folgen ihren Gefühlen, lassen sich von anderen beeinflussen, treffen gemeinsam Entscheidungen.

Und noch etwas: Die Höhe des Arbeitslosengeldes steht in keinem direkten Zusammenhang zur Höhe der Arbeitslosigkeit. Wäre das so, müsste in den Ländern mit dem niedrigsten Arbeitslosengeld auch die niedrigste Arbeitslosigkeit zu verzeichnen sein. Das trifft nicht zu. Das Arbeitslosenversicherungssystem erklärt eben nur einen Bruchteil der Arbeitslosigkeit, während Bildungs-, Finanz- und Wirtschaftspolitik die zentrale Rolle spielen. Die Lösung eines Problems muss also nicht dort zu finden sein, wo das Problem sichtbar wird. Die Spielräume in der Arbeitsmarktpolitik seien zur Zeit gering, argumentiert AMS-Chef Johannes Kopf. "Ich hoffe auf konjunkturbelebende Maßnahmen". Naheliegender wäre es, eine faire Entlohnung von Arbeit und faire Anstellungsverhältnisse zu fordern. Der Skandal sind ja nicht die 828 Euro im Monat für Bezieher der Mindestsicherung. Der Skandal ist, dass es Menschen gibt, die für ihre Arbeit nur einen so geringen Lohn bekommen.

Lückenloses Erwerbsleben als Ausnahme

Österreich liegt, was die Höhe der Arbeitslosenleistungen betrifft, im Vergleich mit ähnlichen OECD-Ländern im unteren Drittel. Der durchschnittliche Lohnersatz bei Arbeitslosengeld und Notstandshilfe ist noch dazu seit 2000 real gesunken. Phasen der Erwerbslosigkeit werden zukünftig die Biographien der meisten Arbeitnehmer prägen. Lückenlose Erwerbsbiographien samt lebenslangen 40-Stunden-Anstellungen dürften die Ausnahme darstellen. Auf diese Herausforderungen muss sich auch das Sozialsystem einstellen. Arbeitslosengelder und ein unteres Netz, das vor weiterem sozialen Abstieg schützt, sind eine zukünftige Versicherung gegen Armut in einer sich verändernden Arbeitswelt. Man kann es auch so sagen: Wenn beim Tanz um die Sessel die Musik aufhört und die Hälfte der Leute keinen Platz findet, hilft es nicht, wenn man die Musik schneller spielt.

Der Autor ist Sozialexperte der Diakonie und Mitbegründer der Armutskonferenz

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