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Digital In Arbeit

Fehldiagnose für soziale Therapie

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Harte Kritik am Diskussionstext für den Sozialhirtenbrief: Die Diagnose der sozialen Realität ist falsch. Wie können dann die Therapieratschläge richtig sein?

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Harte Kritik am Diskussionstext für den Sozialhirtenbrief: Die Diagnose der sozialen Realität ist falsch. Wie können dann die Therapieratschläge richtig sein?

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„In unserer Gesellschaft werden Einkommen und Lebenschancen fast ausschließlich über Erwerbsarbeit verteüt.“ Dieser Befund des Diskussionstextes für einen Sozialhirtenbrief (FUR-CHE-Dokumentation 37/1988) ist grundfalsch und sozialwissenschaftlich absolut unhaltbar. Hat man die seit Jahren aus gutem Grund stattfindende Diskussion über das rechte Maß und die Rechtfertigung der Umverteilung (oder „zweiten Einkommensverteilung“) glatt übersehen?

Die sogenannte „Staatsquote“ der österreichischen Volkswirtschaft ist im internationalen Vergleich sehr hoch, und dabei geht es in einem beträchtlichen Maß um die Vermittlung von Einkommen, das eben nicht über Erwerbsarbeit verteilt wird. •

Selbst wenn man von der gewaltigen Summe von Pensionszahlungen im Alter absieht, verfügt Österreich über ein hochentwik-keltes System von Beihilfen und Subventionszahlungen, die ihrem Wesen nach keinesfalls als Abgeltung von Erwerbsarbeit verteilt werden. Sie werden freilich alle aus der Frucht von Erwerbsarbeit gespeist, aber das kann wohl nicht die Quelle des Ärgers der Autoren sein, weil eine andere Form der Finanzierung denkunmöglich ist.

Umverteilung war solange eher unproblematisch, als man die Reichen belasten und die Armen begünstigen wollte. Heute ist aber jeder Bürger zumindest potentieller Empfänger von Sozialleistungen, und zwar in sehr vielen Fällen ohne Prüfung seiner tatsächlichen Bedürftigkeit. Denn auch ein pensionierter Generaldirektor nimmt die „Seniorenermäßigung“ in Anspruch, weil er eben einfach ein bestimmtes Alter erreicht hat.

Vom größten Teil der Transferzahlungen wird man dennoch annehmen können, daß er prinzipiell berechtigt ist. Etwas anderes ist freilich, daß die unentrinnbare Verknüpfung von sozialen Leistungen und sozialen Abgaben die im Mittelpunkt der christlichen Soziallehre stehende Frage der Gerechtigkeit zunehmend aufwirft. Eine Ausdehnung der Umverteilung ist nicht an sich gut — schon gar nicht als Selbstzweck —, sondern sie ist es nur dann, wenn damit sozialen Bedürfnissen entsprochen wird.

Dies alles sind heute ernsthafte und vieldiskutierte Probleme der sozialen Realität in den entwik-kelten Industriestaaten. Vor ihnen die Augen zu verschließen, bedeutet den Versuch, Antworten aus einem Elfenbeinturm der Weltfremdheit zu geben.

Nur von hier aus kann einem einfallen, „gesetzliche Regelungen“ zu fordern, die „das Recht auf Arbeit zur Geltung bringen“. Die besten Köpfe der westlichen

Demokratien suchen seit langem nach solchen Möglichkeiten, freilich mit bedauerlich wenig Erfolg. Gebe es wirklich Gesetze, mit denen man das Recht auf Arbeit durchsetzen kann — sie wären schon längst beschlossen.

Einer besonderen Betrachtung bedarf der Umstand, daß im „Grundtext“ Anklage gegen einen absolut verengten Begriff von Arbeit erhoben wird. Es ist ganz zweifellos so, daß bei vielen nur die Erwerbsarbeit zählt, während es geradezu eine Frucht des wirtschaftlichen Fortschrittes sein müßte, daß die Menschen durch die steigende Ergiebigkeit des Produktionsprozesses zusätzliche und sehr wertvolle Lebensdimensionen gewinnen.

Es ist ein Gradmesser für den Entwicklungsstand einer Volkswirtschaft, wieviel von der vorhandenen Arbeitskraft zur Dek-kung der Grundbedürfnisse - insbesondere der Ernährung — absorbiert wird. Mit der steigenden Produktivität wird ermöglicht, daß sowohl der einzelne als auch die gesamte Gesellschaft mehr Möglichkeiten zur Verfügung haben, höherwertige Bedürfnisse zu befriedigen—seien sie kultureller, seien sie zivilisatorischer Art.

Wenn man betrachtet, was die Sozialpolitiker in unserem Land ständig beschäftigt, so ist es die Verfügung über die Früchte einer rasant gestiegenen Produktivität. Es wäre eine arge Fehldiagnose, anzunehmen, die höhere Wertschöpfung hätte nur zur entsprechenden Vermehrung der Erwerbs- und Kapitaleinkommen geführt. Durch einschneidende Maßnahmen ist ja vor allem auch das gesamte Quantum der in der Volkswirtschaft erbrachten Erwerbsarbeit reduziert worden.

Dies geschah durch die Hinauszögerung des Eintrittes ins Erwerbsleben nach wesentlich längerer Ausbildung einerseits und durch die frühere Beendigung des Arbeitslebens mit Pensionierung andererseits. Daneben ist innerhalb der Erwerbsphase eine maßgebliche Arbeitszeitverkürzung, bezogen auf die wöchentliche und die Jahresarbeitszeit (Urlaubsverlängerung), erfolgt.

Für die Fortführung dieses Prozesses der Produktionsnutzung stehen uns grundsätzlich mehrere Optionen zur Verfügung. Der „Grundtext“ erkennt zutreffend, daß jetzt angestrebt werden müßte, sozial wertvolle Leistungen, die bisher nicht oder nicht ausreichend entlohnt wurden, besser zu beteilen. Hier steht die unersetzliche Arbeit der nicht erwerbstätigen Mutter eindeutig im Vordergrund.

Wenn der Entwurf der Bischöfe in diese Richtung weist (Ergänzung von Sozialstaat und Nächstenhilfe, Weckung von Eigeninitiative), so ist dies außerordentlich zu begrüßen. Es darf freilich keine Zweifel daran geben, daß die Beschreitung dieses Weges nur dann wirksam erfolgen kann, wenn Wirtschaftskraft und Wirtschaftsertrag zunehmend hierher umgeleitet werden.

Entscheidet man sich für diese Option, muß freilich erkannt werden, daß sie mit einer weiteren Arbeitszeitverkürzung konkurriert. Mehrfach kann über gewonnene Produktivität nicht verfügt werden.

Dies alles muß deshalb betont werden, weil auch der „Grundtext“ wiederum ein „solidarisches“ Teilen der Erwerbsarbeit durch eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung zur Diskussion stellt. Weniger Arbeit bedeutet zwangsläufig weniger Verteilungsspielraum, denn die Menge der allgemein geleisteten Arbeit kann vom Quantum des allgemeinen Arbeitsertrages ja nicht getrennt werden.

Der Autor ist Volksanwalt. Auszug aus einer Stellungnahme für das Dr. Karl Kummer-Institut.

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