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Die „dynamische Rente”

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Das Wort wurde von Dr. W. Schreiber, dem Geschäftsführer des Bundes katholischer Unternehmer (Köln) in die Debatte über die Rentenreform in Deutschland geworfen. In der sehr gründlich und sachlich geführten Debatte der Fachexperten und Interessenvertreter wurde diese „Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft” als Diskussionsbasis aufgenommen, doch erhoben sich auch in diesen Foren schon lebhafte Widerstände. Ein großes Duell zwischen zwei anerkannten Fachexperten der Versicherungsmathematik, Dr. H e u b e c k (Deutsche Gesellschaft für Versicherungsmathematik) und Dr. T i e t z (Bundesarbeitsministerium und SPD- Experte) endete mit ganz geringem Plus für Heubeck. Versicherungsmathematik ist freilich eine „Geheimwissenschaft’, deren statistische Formeln, Bestandsfortschreibungen, Sterbetafeln, Wahrscheinlichkeitsfaktoren und noch vielerlei Faktoren für die Allgemeinheit spanische Dörfer sind. Immerhin wurde Dr. Heubecks Berechnung, daß im Jahre 2001 nach dem Regierungsentwurf 34,5 Prozent, nach dem SPD- Entwurf sogar 40,7 Prozent des beitragspflichtigen Lohnes für die Rentenversicherung abzuzweigen wären, von der Regierung anerkannt. Es seien zwar einige unwesentliche Faktoren unberücksichtigt, doch müsse man auch „sozialpolitische Gesichtspunkte berücksichtigen’”.

Damit verschob sich allerdings schon der an sich gute Gedanke auf wesensfremdes Gebiet und wurde in eine andere Form gekleidet, die praktisch undurchführbar war. Es war nämlich damals ein Wahlgang fällig. Und wenn man die „dynamische Rente” in eine „vereinfachte Formel” brachte, war sie für alle Parteien ein Wahlschlager. Wer, ob jung, ob alt, welcher Partei immer, wäre nicht dafür, daß er im Alter kaufkraftmäßig gesicherte Renten erhielte, entsprechend seiner derzeit in einem bestimmten Kaufwert eingezahlten Beiträge; daß ihm nicht, wie schon ein- oder zweimal, durch Inflationsmaßnahmen seine Beiträge entwertet würden: wer sah nicht ein, daß schließlich die geleisteten Beiträge irgendwie die Rentenhöhe beeinflussen? Das Bestechende war: man bekommt 1980 oder 1999 nicht eine starre Summe, eine statische, sondern eine dem künftigen Kaufwert angepaßte, gleichwertige”, dynamische Rente.

Vereinfacht dargestellt: Jeder Arbeitende zahlt von seinem Einkommen laufend einen Prozentsatz und erwirbt sich damit Rentenanspruchspunkte. Verdient er mehr, steigt die Punktezahl, verdient er weniger, steigt sie langsamer. Erreicht er den Rentenanspruch, so werden alle seine Punkte addiert und ergeben die Grundlage für seinen Rentenanspruch. Damit aber nun die_ Kaufkraftschwankung ausgeglichen wird, ermittelt alljährlich die Rentenkasse, wieviel insgesamt von allen Versicherten eingezahlt wurde (das entspricht ia dem Einkommen und indirekt auch dem Kaufwert). Diese Richtzahl wird nun mit der Punktezahl in Verbindung gebracht und ergibt die jeweilige persönliche Rentenzahl in dem betreffenden Jahr. Natürlich schwankt damit die Rente in ihrer effektiven Zahl von Jahr zu Jahr, bleibt nur gleich „kaufkraftfähig”.

N-benbci bemerkt: der Schreibersche Entwurf lehnt jede staatlichen Zuschüsse ab, die das Bild nur verfälschen, sie könnten nur einen Sinn haben, wenn die Renten bloß einer „kleinen Minderheit durch einen größeren Teil Gutsituierter” gegeben werden.

In dieser sehr vereinfachten Form war also die „dynamische Rente” ein gutes Wahlzuckerl, und jede Partei hütete sich, dagegen viel einzuwenden. So ist sie also am 1. Jänner 1957 in Deutschland von großer praktischer Bedeutung geworden. Sie verbesserte vorerst die alten Renten um 7% Prozent. Wenn man bedenkt, daß es in Deutschland derzeit rund 6,6 Millionen Sozialrentner gibt, in Oesterreich 800.000 Rentner mit rund 8 Milliarden Schilling jährlicher Auszahlung — rund ein Zehntel der Bevölkerung —, daß in Wien 20 Prozent der Erwerbstätigen Rentenbezieher sind, weiter, daß durch die Fortschritte der Medizin die Lebenserwartung und damit die Rentenbezugsdauer ständig steigen, dann kann man das Rentenproblem nicht ernst genug betrachten.

Es ist selbst für die Fachexperten sehr kompliziert. Schon auf den ersten Blick sieht man, daß selbst die einfachste mathematische Konstruktion viele „Variable” enthält, der „Kaufwert” zum Beispiel schon umstritten ist.

Nun kann man sich ja relativ leicht darüber einigen, was man unter einer Lebenshaltungseinheit versteht, was man zum Beispiel braucht, um einen Tag lang essen, wohnen usw. zu können, und in welcher Geldsumme, Schilling, D-Mark, Dollar, Gold oder sonstwie, man dies ausdrückt. Man kann sich auch darüber einigen, wann die Altersgrenze, bei welcher Arbeitsbehinderung die Invalidität beginnt. Aber nun zahlen heute die einen mit 20, die anderen mit 64 Lebensjahren ein, beziehen morgen die einen ein Jahr lang, die anderen 20 Jahre lang die Rente.

Auch hier kann notfalls noch Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung die Rentenberechnung auf Basis der geleisteten Jahreszahlungen mit Hilfe der Rechenmaschinen gerecht feststellen. Ihre „Gerechtigkeit” setzt sich natürlich über individuelle Härten, frühere Leistungen, persönliche Bedürftigkeit u. dgl. hinweg. Man kann also im Durchschnitt berechnen, wieviel jeder in Währungseinheiten derzeit und in den folgenden Jahren zu bezahlen hat, damit er morgen und übermorgen den jetzigen Wert an Lebenshaltungseinheiten kaufen kann.

Die Schwierigkeit beginnt aber schon da, wo man berechnen muß, daß der heute 20jährige und heute 64jährige beispielsweise 20 D-Mark zu erlegen hat, um dem heute 65jährigen seine Rente zu erbringen. Sie steigert sich aber, wenn nächstes Jahr der Kaufwert der heutigen 20 D-Mark ein anderer geworden ist. Und sie steigert sich ins Undurchsichtige, wenn der Staat für gewisse Aufwendungen in den notwendigsten Lebenshaltungskosten, in Wohnung, Milch, Getreide, Fleisch usw., Zuschüsse leistet.

Die kritischen Stimmen gegen die „mysteriöse Rentenformel “ sind in letzter Zeit immer lauter geworden. Unlängst sagte ein Versicherungsexperte (Generaldirektor Dr. W. P 1 a t h, Lübeck), „die Rentenreform scheine die schlimmste Mißgeburt zu sein, die je ein Storch einer Mutter in die Wiege gelegt habe”. Er wies mathematisch nach, daß in Einzelfällen d i e 7,5 fache Beitragsleistung für die gleiche Leistung zu zahlen ist, bei andern weitere Beitragsleistung Vermögenseinbußen erzielt, von dritten Schlauen und Versierten Gewinne erzielt werden können, wie bei keiner Versicherung in der Welt. Gewiß kann sich der einfach Versicherte durch das mathematische Gestrüpp nicht leicht durcharbeiten und sich die Rosinen aus dem Kuchen holen. Muß denn aber Rentenrecht, das für die Allgemeinheit gilt und von ihr erhalten wird, eine Geheimwissenschaft sein?

Die dynamische Rente, wie sie in Westdeutschland in der Rentenversicherung eingeführt wurde, sieht also von Staatszuschüssen ab. Sie will den Ausgleich zwischen den Generationen schaffen, die nun zahlen, morgen beziehen. In der Gesamtheit bekommen die Rentner nichts geschenkt, nur so viel ausbezahlt, als sie eingezahlt haben. Sind viele Einzahler da, sind die Beiträge durch die Konjunktur hoch, sinkt aber die Konjunktur, werden die Beitragenden weniger, dann sinken auch die Renten. Die „Indexrente” ist im Wesen ein zeitlich ausgedehntes „Umlageverfahren”, belastet also die Renteninstitute nicht über ihre finanzielle Leistungskraft.

Dem wechselnden Kaufwert entspricht sie freilich nur indirekt. Würde beispielsweise der Kaufwert des Geldes in einem Jahr durch Inflation auf ein Fünftel sinken, so würden — wenigstens theoretisch — die Löhne und Rentenbeträge und damit auch die Renten auf das Fünffache steigen.

Die größte Schwierigkeit liegt in den „wohlerworbenen Rechten” der „alten Last”, oder wie man es auch weniger respektvoll genannt hat, dem überlieferten „Sozialgepäck”.

Diese nun zum „alten Eisen geworfenen” Alten haben freilich unserer gegenwärtigen Wirtschaft durch ihr Wissen, ihre Arbeit, ihre Initiative, ihre Erfindungen, ihren Unternehmungsgeist, ihre Fachkenntnisse die Mittel verschafft, die heutigen Generationen aus diesen Erträgnissen zu finanzieren. Aus all dem zehren und leben wir heute noch, wie vom Tafeldamast der Habsburger und den Schätzen unserer Museen. Die Ringstraße, die Semmeringbahn, die Eisenwerke in Donawitz, die Hofoper, die Kreditanstalt, die Universität mit all ihren geistigen Schätzen sind nicht heute entstanden, aber wir leben noch heute davon.

Auch die Rentenversicherung beginnt zu einer Krebsgeschwulst auszuarten wie die Krankenversicherung. So wie wir von einem ehemaligen Minister wissen, der mit dem Krankenschein der Bundeskrankenkasse den Arzt aufsuchte, wie wir höchstbezahlte Angestellte kennen, die sich zum „Kassentarif” behandeln lassen (wenn auch außer der Ordinationszeit), so kennen wir auch Mädchen. die nach der Pragmatisierung erst die Ehe schließen, und eine Millionärsgaftip, „die ihre Staatsanstellung bis zur Pensionsįęręęhtįįgupg b.ęi- behielt”, und Kellner, die dann als „Hoteliers” aufschienen, als sie durch Kauf oder Eheschließung aus dem Angestelltenstand emporstiegen, und zwar dann erst, als sie ihren Rentenanspruch gesichert hotten.

Wir wissen, wie fragwürdig die Altersgrenze ist. Wir kennen genug berufsunfähige Junge, wir kennen arbeitsfähige 80jährige. Man braucht nicht erst auf Körner oder Adenauer hinzuweisen. Wir wissen auch, daß viele von diesen Alten doppelt solang arbeiten als die Jungen mit ihrer Forderung nach 40 Wochenstunden. Die Errungenschaft der Medizin hat diesen Alten nämlich keinen ruhigen Lebensabend mit „etwas Arbeit im Rosengarten” beschert, sondern noch intensivere Tätigkeit für andere. Es besteht hier nämlich ein eigenartiger Gegensatz der Sozialpolitik: auf der einen Seite will sie dem Alten mit Hilfe der Medizin einen „geruhsamen Lebensabend” verschaffen, auf der anderen Seite ihn möglichst lang „leistungsfähig” erhalten.

Das ASVG in Oesterreich, die dynamische Rente in Deutschland, analoge Bestimmungen in anderen Ländern lassen das Rentnerdasein allmählich zu einem entscheidenden Wirtschaftsfaktor werden. Daran ändert nicht einmal die Tatsache etwas, daß in Oesterreich, in Deutschland, in Spanien, in Italien (hier noch dazu zwischen Großitalien und Südtirol differenziert) die frühere Parteizugehörigkeit auf die Rente von Einfluß war (doch darüber wäre sehr Verschiedenes zu sagen). Diese Fragen sind aber keine parteipolitischen.

Die Statistiker sagen uns, daß von den Staatsausgaben von 32 Milliarden Schilling fast ein Fünftel auf die Pensionslast entfällt. Dazu kommen aber noch die Milliardensummen, die von den Ländern, Städten und Gemeinden dafür aufgewendet werden, und weiter die direkten Auszahlungen der Pensionskassen, ebenfalls in Milliardensummen. Wird dieser Aufwand in Zukunft aus dem Sozialprodukt tragbar sein, zumal daneben von Jahr zu Jahr steigende Summen für die Volksgesundheit abgezweigt werden müssen, um den Ansprüchen zu genügen?

Der Bundesminister für soziale Verwaltung, Anton P r o k s c h, gab im März dieses Jahres auf die Frage: Sind die staatlichen sozialen Leistungen untragbar? die Antwort: die Ausgaben seines Ressorts seien durch die Vollbeschäftigung (erhöhte Einnahmen, verminderte Arbeitslosen-Unterstützung) im Rückgang. Der Anteil des Sozialbudgets betrage 1957 von den präliminier- ten Staatsausgaben 11,4 Prozent.

Demgegenüber erhebt die Presse in Deutschland immer ernstere Bedenken über die kürzlich beschlossene Rentenreform: Vom „Sog der Rentenreform” spricht die „Deutsche Zeitung”, von „kollektiver Ansteckung” die „Frankfurter Allgemeine”. „Wenn die Welt der freien Wirtschaft durch übereilte und unüberlegte Sozialreformen aus den Fugen gerät, dann ist es Sache der Politiker, nicht einzelner Berufsgruppen, sie wieder einzurenken”, meint die „Zeit”. „Nun rufen auch die freien Berufe nach dem Staat. Das ist ein schlimmes Zeichen, nicht etwa nur für die freien Berufe, sondern auch für den Staat”, konstatiert die „Kölnische Rundschau”. „Den Hang zur Unfreiheit” hebt die ..Stuttgarter Zeitung” hervor. Dazu kommt eine Unzahl von ähnlichen Stimmen aus Kreisen verschiedener Berufsvertretungen und Abgeordneten aller Fraktionen des Bundesrates, wie „Das geistige Kapital” meldet.

Die Versicherungsmathematiker rechnen uns vor, daß bei der gegenwärtigen Nachwuchszahl in 20 Jahren die Rechnung nicht mehr aufgehen wird, weil die Kinder fehlen. Mit Steuern aber kann man das Manko des Nachwuchses nicht decken, weil die Erwerbstätigen überbelastet sind (das, was er während seiner durchschnittlichen Arbeitsjahre einzahlt, reicht gerade für eine dreijährige Rente). Sinkt der Nachwuchs, sinken auch auf dem Umweg wieder die Steuern. Das Alter mit Pension zu genieneu, ohne zu haben, ist eine Illusion, sie muß längstens in einer Generation mangels Mitteln zerschellen.

Die „dynamische Rente” stellt den Rentner vor die harte Klarheit, daß er schließlich nicht mehr herausbekommen kann, als er einbezahlt hat, daß ihm auch später niemand etwas schenkt. Klarheit ist oft unangenehm, hier schafft sie aber wenigstens Klarheit über die Kosten.

Schafft sie aber auch Klarheit über die Sicherheit? Nun soll das staatliche Kollektiv, nicht private Versicherungen oder ständische Insti- tionen, die Sicherung übernehmen. Die Basis ist damit gewiß verbreitert — sprechen aber gegen die angebliche Sicherheit nicht die Inflationen und Zusammenbrüche der letzten Jahrzehnte?

Die dynamische Rente bezieht sich mit’Recht auf den eigentlichen Rentner. Die damit am Rande beteiligten Witwen und Waisen sind vorerst nicht eingeschlossen: Sozialhilfen, Arbeitslosenunterstützung und sonstige soziale Aufgaben sind davon abgegrenzt.

Eine kollektive Sicherheit gibt auch die dynamische Rente nicht, wenn sie auch einen Fortschritt darstellt. Einen wirklichen Schutz gibt — vom ursprünglich familiären Schutz durch die Kinder — der erweiterte Schutz im Berufsstand. Er mag gegenüber dem länderumspannenden Sozialversicherungsträger so primitiv erscheinen wie der Tischler gegen die Möbelfabrik; wo er aber noch erhalten ist, soll er bewahrt bleiben! Weil er mir noch immer rascher, sicherer und passender verschafft, was mir individuell am besten paßt.

Die dynamische Rente ist für den Rentner gewiß ein finanzieller Fortschritt. Sie ist ein Ausweg aus der Zwangslage, Ansprüche der Zukunft heute schon decken zu müssen, ohne die Deckung dafür auch voll übernehmen zu wollen.

Dynamische Rente, Nachwuchs und ehrlicher Leistungslohn aber sind untrennbar, keines kann ohne das andere bestehen.

Und wenn man es genauer betrachtet, scheint es fast, daß die soziale Sicherheit unsere Sicherheit gefährden wird. 40 Prozent vom Lohn nur für die Rente! Und die Krankenkasse! Und die Steuern? Was bleibt? Es gab vor vielen Jahren einen Prozeß gegen einen Mann — er war vielleicht ein halber Narr — wegen fahrlässiger Krida. Er hatte so viele Versicherungen gegen alle denkbaren Unfälle abgeschlossen (nur nicht gegen die Krida), daß er an der Höhe der Prämien zugrunde ging und schließlich sogar seine Begräbnispolizze nicht mehr bezahlen konnte. Vielleicht ist er — ich weiß es nicht — in einem Massengrab verscharrt worden. Aerzte kennen auch eine tödliche Hypertrophie lebenswichtiger Organe. Auch die Sicherheit hat ihre Grenzen, die man nicht auf Kosten der natürlichen I ebens- und Genußnotwendigkeiten ungestraft überschreiten darf. Die Sozialversicherung ist jedenfalls schon knapp an dieser Grenze.

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