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„Das Wunder hört nimmer auf“

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Seltden die deutsche'Rentenreferm fhft ihrer, der .iwirtscbartlrchen Entwicklung “jeweils angepaßten, „dynamischen“ Rente Gesetz geworden ist (26. Februar 1957), sind ein und ein halbes Jahr verflossen. Es ist heute bereits möglich, sich ein klares Bild über die Auswirkungen zu machen.

Zunächst möchte man fragen: Sind durch sie Störungen in der Wirtschaft oder eine Schädigung der Währung herbeigeführt worden, wie beides vor ihrer Ge-setzwerdung immer wieder von der Bank deutscher Länder, mit Geheimrat Vocke an der Spitze, aber auch in der großen, 50 Stunden währenden Bundestagsdebatte, die der Annahme der Reform vorausging, behauptet wurde? . Diese Frage ist mit einem glatten Nein zu beantworten. Die Währung ist vollkommeti intakt geblieben. Die im April des Vorjahres durchgeführte Rentennachzahlung von mehr als einer Milliarde D-Mark wurde teils vom Markt anstandslos absorbiert, teils erhöhte sie die Sparkonten. Es bildete die eigentlich große Ueberraschung dieser Nachzahlungstage*, daß der deutsche Rentner nach zwölf in Elend und Dürftigkeit verbrachten Jahren seinen Spartrieb bewahrt hat und mit Spareinlagen dazu beitrug, der Wirtschaft die so dringend nötigen Mittel zu ihrer Ausweitung zu gewähren. Ebenso haben die mit dem 1. Mai 1957 einsetzenden laufen-, den Auszahlungen der neuen, erhöhten Renten die Preise in keiner Weise hinaufgetrieben.

Eine weitere Frage ist: Was haben durch die Reform die 6,5 Millionen Rentenempfänger der Sozialversicherung gewonnen, an denen das deutsche „Wirtschaftswunder“ bis dahin beharrlich vorbeigegangen war und die mit monatlichen Durchschnittsaltersrenten von 108 DM (648 S) und Durchschnittswitwenrenten von 79 DM (474 S) geduldig auf den Tag gewartet hatten, der ihnen die immer wieder versprochene Anpassung ihrer Renten an den Wert des deutschen Sozialproduktes bringen und sie zu Teilhabern am wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik machen sollte?

Lassen wir am besten Zahlen für die finanzielle Rentenentwicklung vor und nach der Rentenreform (26. Februar 1957) diesbezüglich sprechen:

In der Angestelltenversicherung lagen am 1. März 1953 noch 95 Prozent aller Renten unter 200 DM monatlich, am 1. März 1957 waren es nur noch 37 Prozent. Am 1. März 1953 gab es niemanden, der eine Rente von mehr als 300 DM monatlich bezogen hätte, am 1. März 1957 waren es bereits 3 8,6 Prozent aller Rentner. Von den Frauen hatten am 1. März 1953 99,5 Prozent Renten unter 200 DM monatlich, am 1. März 1957 waren es nur noch 79 Prozent, doch 7,9 Prozent bezogen bereits Renten von mehr als 300 DM. Von 506.000 Witwenrenten lagen am 1. März 1953 99,7 Prozent unter 140 DM monatlich, am 1. März 1957 überstiegen 50 Prozent bereits diesen Betrag und 2,5 Prozent erreichten oder überstiegen 300 DM.

In'der knappschaftlichen Rentenversicherung der Bergarbeiter, wo die dynamische Rente mit dem Neuregelungsgesetz vom 21. Mai 1957 eingeführt wurde, betrug der Durchschnitt der Versichertenrenten vor der Umstellung 176.40 DM monatlich, nach derselben jedoch 357.50 DM. Auch die Witwenrenten haben sich nahezu verdoppelt; sie beliefen sich im Monatsdurchschnitt vor der Umstellung auf 104.60 DM, nach derselben aber auf 205.10 DM. Bei Waisenrenten sind die Vergleichszahlen 3 8.10 gegenüber tD g fttj?0 *' “'nfönäw Jim .iSDttsa'■•Tsnsa taNiOK TRT isb ni tbijs wds .aiiqS -

Gewiß, nicht jedem wurde die Rente verdoppelt, und der bundesdeutsche Rentner wird auch in Zukunft jeden Pfennig umdrehen müssen, bevor er ihn ausgibt, aber er hat nun — wir folgen hier den Worten Adenauers — „einen gerechten Anteil am Ertrag der Wirtschaft, einen gerechten Anteil an dem, was er gemeinsam mit den Millionen von Beschäftigten erarbeitet hat“.

Eine weitere, sehr naheliegende Frage: „Wie können die Versicherungsträger diesen ungeheuren Belastungen nachkommen? Erhalten doch die sechseinhalb Millionen Angestellten- und Arbeiterrentner zusammen monatlich 950 Millionen D-Mark; rechnet man den Beitragsanteil dazu, den die Versicherungsträger für die Krankenversicherung ihrer Rentner zu zahlen haben, so wird die Einmilliardengrenze monatlich bereits erheblich überschritten. Hierzu kommt noch, daß seit der Rentenreform der Bund Zuschüsse nur noch zu den Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten leistet.

Nun, der Finanzhaushalt der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und der Landesversicherungsanstalten, welche die Arbeiter betreuen, hat sich seit der Rentenreform, dank der hohen Beschäftigungszahlen und des von bisher 11 Prozent auf 14 Prozent der Bruttolohnsumme erhöhten Beitragssatzes zur Rentenversicherung, zunächst durchaus günstig entwickelt. Beide Versicherungen zusammen vermochten an Ueberschüssen im Jahre 1956 2,32 Milliarden D-Mark und 1957 1,7 Milliarden D-Mark anzusammeln; heuer werden es noch 800 Millionen D-Mark sein. Aber die Rentenreformgesetze verpflichten, und .darin liegt ja das Wesen der Dynamik, die Versicherungsträger, sobald ihnen der Gesetzgeber das Signal dazu gibt, auch die laufenden Renten alljährlich dem gewachsenen Sozialprodukt anzupassen. Dieses Signal wird für 1958 gegeben werden; das bedeutet aber für beide Versicherungen eine jährliche Mehrbelastung von rund 600 Millionen D-Mark. Damit wird dann ihre bisherige Funktion, überschüssige Gelder dem Kapitalmarkt für soziale Zwecke zur Verfügung zu stellen, leider erloschen sein.

Zum Schlüsse noch eine sicherlich sehr berechtigte, wenn auch bisher gottlob nur theoretische Frage: Was geschieht mit der dynamischen Rente, wenn sich die Konjunktur einmal wendet, auf das Hoch der Wirtschaft ein Tief folgt, die Rezession eintritt?

Dann wird sich auch die Rente, die inzwischen auf Grund der ihr innewohnenden Dynamik eine Kehrteuchwendung ausgeführt hat, abwärts bewegen, was bei einer unmittelbaren Automatik, wie sie ursprünglich angestrebt wurde, gar nicht zu verhindern wäre. In diesem Falle aber wird die mittelbare Automatik der deutschen dynamischen oder Produktivitätsrente zum Segen gereichen, denn es bedarf erst eines Aktes des Gesetzgebers, um diese Abwärtsbewegung in die Wege zu leiten. Man hat anläßlich der Beratung der deutschen Rentenreform dieser Kehrseite der Medaille nur sehr wenig Beachtung geschenkt — lediglich Oswald von Nell-Breuning, der ibekannte Jesuitenpater und Universitätsprofessor, hat dieses Umstandes gedacht, der dynamischen Rente dabei aber nur die Funktion einer „Einbahnstraße nach oben“ zugestanden — und bei Beurteilung der zukünftigen Wirtschaftsentwicklung größten Optimismus gezeigt, wie sich denn die Rentenreform überhaupt auf das Vertrauen in die Stetigkeit der künftigen Wohlstandszunahme gründete.

„Das Wunder hört nimmer auf“, scheint auch weiterhin in der Deutschen Bundesrepublik als Devise zu gelten. Auch wir sind versucht, daran zu glauben — trotz Kurzarbeit und Arbeiterentlassungen im Bergbau und der Stahlindustrie des Ruhrgebietes.

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