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Wie lebt der deutsche Arbeiter?

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Durchschnittsfamilien, Durchschnittsverdienste und Durchschnittseinkommen sind Konstruktionen, Ergebnisse rechnerischer Statistik und oft sehr weit vom praktischen und tatsächlichen Leben entfernt. Dennoch muß man sie zumindest an den Anfang jeder Darstellung stellen, die ein größeres Gebiet und einen größeren Personenkreis umfaßt. In der westdeutschen Bundesrepublik gibt es 15,4 Millionen Haushalte, und die Durchschnittshaushaltung umfaßt 3,2 Personen. Schon in der Personenzahl ergeben sich sehr wesentliche Unterschiede, wenn man die Haushalte — der Begriff „Haushalt" ist in der Mehrzahl der Fälle mit dem der „Familien" identisch — nach Berufsgruppen auf gliedert.

Denn dann unterscheidet sich der ländliche Haushalt (3,7 bei den landwirtschaftlichen Arbeitern und 4,5 bei den Landwirten) sehr deutlich von städtischen (3,2 beim Arbeiter, 3,0 beim Angestellten). Wie hoch ist nun die K a u f k r af t der einzelnen Haushalte in Westdeutschland, wieviel Geld haben sie zur Verfügung, um den Lebensunterhalt und die laufenden Anschaffungen zu bestreiten? Eine Frage, die schon deswegen interessiert, weil in letzter Zeit Bewegung in die gesamte Lohn politik Westdeutschlands gekommen ist und die Argumente der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer gegen und für Lohnsteigerungen noch weiter auseinanderliegen, als dies sonst üblich ist, wenn es sich um Lohnforderungen handelt.

Es geht hier nämlich nicht um ein „Nachziehen", nicht um ein „Angleichen", nicht um die Behebung größerer Diskrepanzen zwischen vorausgeeilten Preisen und zurückgebliebenen Löhnen. Im Gegenteil: Die Preisentwicklung in der Bundesrepublik ist seit Anfang 1953 rückläufig, zumindest gleichbleibend. Das vermehrte Angebot hat auf vielen Sektoren des Verbrauchsgütermarktes zu beträchtlichen Senkungen geführt, und die erste, die sogenannte „kleine" Steuerreform, hat das Realeinkommen zumindest etwas erhöht. Die Ausgaben für die Mieten haben sich allerdings für viele Familien nicht unwesentlich erhöht, weil in steigendem Maße Neubauwohnungen zur Verfügung stehen (die Zahl der neugebauten Wohnungen in der Bundesrepublik hat auch wieder 500.000 überschritten) und damit natürlich höhere Mietkosten entstehen. Eine allgemeine Erhöhung der „Altmieten" aber ist noch nicht eingetreten. Sie wird — voraussichtlich im Ausmaß von 20 Prozent — erst in einiger Zeit fällig werden und dann wohl neue Lohnforderungen auslösen.

Eine direkte, in einer Störung des Preisgefüges verwurzelte „Notwendigkeit" für die Forderung nach höheren Löhnen und Gehältern, wie sie auf breiter Front und in sehr ultimativer Form vorgetragen wurde, ist also Zunächst nicht ersichtlich. Sie leitet ihre Begründung und Berechtigung auch ganz anders ab: Sie verweist auf die steigenden Gewinne der Unternehmer, auf die günstige Wirtschaftslage, auf die hervorragende Devisenlage und — hier geht sie auf wirtschaftstheoretische Erwägungen ein — auf die Notwendigkeit, den Güterkonsum von der Lohnseite her anzukurbeln bzw. in Schwung zu halten, um damit auch die gute Beschäftigungslage weiterhin zu sichern.

Diese „expansive" Lohnpolitik, wie die Gewerkschaftsführer sie der Oeffentlichkeit vorstellten, hat natürlich etwas für sich und kann der westdeutschen Wirtschaft, im Grunde genommen, nicht ganz so unangenehm sein, wie ės nach den offiziellen Kommentaren scheinen mußte. Denn langsam macht sich die Deckung des Nachholbedarfes in der Konsumgüterindustrie doch bemerkbar, und auch die beste Propaganda, den Wohn- und Lebenskomfort weiter zu steigern, scheitert irgendwann an den harten Tatsachen und finanziellen Möglichkeiten. Mit dem Ratenverkauf ist man ohnehin bereits bis an die Grenzen des Möglichen gegangen, und ein sehr großer Teil aller Haushaltungen ist in hohem Maße und langfristig ratenverschuldet. So findet das Bestreben, das Resteinkommen der Mittelschichten zu erhöhen — und zu den Mittelschichten zählt, was die Einkommensverhältnisse anbelangt, heute der Großteil der Arbeiterhaushalte —, durchaus Verständnis, und die Länderregierun- gen bemühen sich, unbeschadet ihrer politischen Richtung, sehr um einen gerechten Ausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.

Um zur Statistik zurückzukehren: Es ist interessant, wie ausgeglichen die Einkommensverhältnisse breiter Schichten heute sind. Nach den Erhebungen und Berechnungen des Instituts für Demoskopie in Allensbach haben 15 Prozent aller westdeutschen Haushalte weniger als 150 DM (900 S) im Monat zur Verfügung und ebenfalls etwa 15 Prozent mehr als 500 DM (3000 S), alles netto. Dazwischen liegen 70 Prozent der Haushaltungen. Mehr als zwei Drittel der Einwohner leben also unter weitgehend' gleichen oder zumindest sehr ähnlichen Lebehsbedingungen, und das ergibt denn auch die Durchschnittszahl der' Statistiker: Das westdeutsche Durchschnittseinkommen' liegt pro Familie bei etwa 360 DM netto monatlich. (Die Umrechnung nach dem Devisenkurs, die zirka 2100 S ergibt, entspricht kaufkraft mäßig — und das allein ist ja entscheidend —' nicht ganz den Tatsachen,, weil viele wesentliche Ausgaben, z. B. für die Miete und bestimmte Lebensrnittel, in Westdeutschland höher sind als in Oesterreich.) Auch die Aufteilung des Durchschnittseinkommens nach Berufsgruppen ergibt kein änderes Bild als däs einer weitgehenden Annäherung des allgemeinen Lebensstandards. Das Einkommen der „gehobenen" Arbeiter liegt, wenn man diese an sich sehr unterschiedlichen’ Berufsgruppen Zusammen faßt, bei etwa 370 DM. däs der Angestellten im Durchschnitt auch nicht höher und auch für die Selbständigen, errechnete man das Mittel mit 350 DM!

Was die Abstufung des Lohnniveaus betrifft, so liegt der Steinkohlenbergbau, dicht gefolgt von der Hüttenindustrie, an der Spitze. Das entspricht sowohl der Schwere der Arbeit wie auch der Notwendigkeit, genügend Arbeitskräfte zu finden und heranzuziehen. Das wirkt sich auch im Heimstättenbau, in den sozialen Einrichtungen und in der Pflege des Nachwuchses aus und kommt schließlich im Wohlstand der betreffenden Gebiete zum Ausdruck: Im Ruhrgebiet gibt es z. B. die meisten Fernsehempfänger. Auch die Frauenarbeit wird dort, wo sie mit diesen hochbezahlten Arbeitskategorien in Verbindung steht, höher bezahlt als anderswo. So verdienen z. B. die Reihigungsfrauen in den Bergwerksbetrieben mehr als die direkt in der Produktion arbeitenden weiblichen Kräfte in der Elektro- oder Chemieindustrie.

Der Bruttostundenverdienst der Arbeiter liegt heute, nach den in jüngster Zeit durchgeführten Lohnverbesserungen in der Schwerindustrie Westdeutschlands über 2 DM bis 2.30 DM. Demgegenüber beträgt der Bruttostundenlohn in der Nahrungs- und Genußmittelindustrie nur etwa 1.30 DM, und weibliche Arbeitskräfte in der Schneiderei, in der Textilindustrie oder in der Elektrofertigung haben eine Bruttoentlohnung von zirka 1 DM je Stunde. Reinemachefrauen erhalten allgemein 1 DM je Stunde.

Für die richtige Deutung der Zahlen ist es sehr wesentlich, auch das „Nebeneinkommen" innerhalb der „Haushaltungen" zu berücksichtigen. Nur etwa 65 Prozent des Nettoeinkommens aller westdeutschen Haushalte wird nämlich vom „Hauptverdiener" nach Hause gebracht und über ein Drittel von „nebenver» dienenden" Familienmitgliedern. Diese aber haben bei den Selbständigen eine geringere Bedeutung als bei den Arbeitern, und das spielt eine große Rolle für die Beurteilung der Kaufkraft und der allgemeinen Lage der Familien. Bei den Selbständigen, den freien Berufen und auch bei gehobenen Angestellten muß das „H a u p t e i n- k omm e n" auch dann reichen, wenn die Familie groß ist, in den Arbeiterhaushalten hingegen sind meist noch „M i t ve r di e n e r", die wirtschaftliche Lage dieser Haushalte ist also in der Praxis weit besser, als es in der Statistik zum Ausdruck kommen kann.

Bleibt noch die Frage nach dem Weg des Geldes, nach dem „Wohin" und dem „Wofür".

Solange sich das Einkommen in der Ebene des Existenzminimums bewegt, braucht sie nicht gestellt zu werden. Dort, wo mehr als 300 .DM netto für drei bis vier Personen anfallen, beginnen andere „Bedürfnisse" als die des „nackten Lebens" eine Rolle zu spielen. Nach dem „Sattessen" der ersten Jahre nach der Währungsreform, nach dem „Neueinkleiden" der Jahre 1952 und 1953, nach dem „Wiederanschaffen" für Haushalt und Wohnung (womit die Einkommen vielfach auf weite Sicht ratenbelastet sind) treten jetzt Genußmittel (starke Steigerung des Tabak- und des Kaffeekonsums) und Reisen in den Vordergrund. In der Anschaffung „zivilisatorischer" Errungenschaften (Kühlschränke, Haushaltmaschinen, Fernsehgeräte), im Kauf von Kraftfahrzeugen und in gesteigerten Aufwendungen für Reisen werden auch jene Beträge wiederzufinden sein, die als Erfolge der „expansiven Lohnpolitik" der Gewerkschaften als Plus in die Lohntüten wandern und zunächst noch nicht durch erhöhte Preise verschlungen werden.

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