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Alles — aber auf Pump

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Ivan Vuksanovic und seine Familie wohnen im zehnten Stock eines neuen Hauses in Novi-Beograd. Auf 62 Quadratmetern findet man neben den üblichen Wohn- und Schlafzimmermöbeln auch Kühlschrank, Waschmaschine und Nähmaschine. Auf dem grasüberwucherten Parkplatz steht ein sechs Jahre alter französischer Kleinwagen. So wie Herr Vuksanovic, seine Frau und seine beiden Töchter leben laut Statistik mehr als 60 Prozent der jugoslawischen Bevölkerung in den mittleren und größeren Städten.

Das Monatseinkommen des Bautechnikers Vuksanovic beträgt 3500 Dinar, das sind etwas mehr als 3000 Schilling. Seine Frau ist nicht berufstätig, sondern absolviert eben einen Sekretärinnenkurs. Wenn nur ein Familienmitglied arbeitet, braucht keine Einkommensteuer bezahlt zu werden. Tochter Zorica besucht die erste Klasse des Sechsten Belgrader Gymnasiums, die jüngere, Ivana, geht in die vierte Grundschul-klasse.

Für die Wohnungsmiete inklusive Heizung, Strom, Rundfunk- und Fernsehgebühren werden im Monat 800 Dinar bezahlt. Zwei Fünftel des Gehaltes, also etwa 1400 Dinar, geben die Vuksanovics für Lebensmittel aus. Gelegentlich machen sie mit dem Auto einen Abstecher zu Onkel Mirko in das Dorf Pozarevac und holen sich Kartoffeln, Zwiebeln und Äpfel. Das ist charakteristisch für die jugoslawischen Einkommensverhältnisse. Vor allem in den südlichen Landesteilen ist die gegenseitige Familienhilfe immer noch üblich. Ein Beispiel: Verwandte, die im Ausland arbeiten, überweisen den Zuhausegebliebenen harte Devisen. Das gilt auch für Emigranten, die schon vor Jahrzehnten nach Ubersee ausgewandert sind. In der Landwirtschaft tätige Verwandte steuern billige Lebensmittel bei, und auch Großvater oder Großmutter bringen ihre Renten in den gemeinsamen Geldtopf ein. Wenn das noch nicht reicht, dann gibt es Kredite, und zwar für alles. Größere Anschaffungen — wozu in Jugoslawien auch der Kauf der relativ teuren Textilien und Schuhe zählt — tätigt man ausschließlich auf Pump.

Wenn Ivan Vuksanovic sein Gehalt am Monatsersten an der Kasse seines Betriebes in Empfang nimmt, sind davon schon 230 Dinar abgezogen, als Rückzahlung für einen Kredit, den er seinerzeit für den Kauf von Möbeln erhalten hat. Außerdem werden ihm 500 Dinar für die Beistandskasse abgezogen. Im Vorjahr hatte er 10.000 Dinar als Anleihe aus der Beistandskasse seines Betriebes aufgenommen. Von dem Geld wurden ein Fernsehgerät, ein Plattenspieler und eine Schreibmaschine gekauft. Mit dem Rest fuhr die Familie auf Urlaub nach Griechenland. Mit dem eigenen Auto, das vor sechs Jahren aus dem Erlös einer kleinen Erbschaft angeschafft worden war.

Die täglich anfallenden Kosten für das Fahrzeug bestreitet Vuksanovic zum Teil mit einem Fahrtspesenanteil von 198 Dinar, den er von seiner Firma bekommt, dazu für Dienstfahrten außerhalb Belgrads noch Kilometergeld.

Die jugoslawische Durchschnittsfamilie verfügt also im Monat über rund 3000 Schilling, zahlt davon Kredite, Miete, Strom, Heizung, bestreitet die Unkosten für ein Auto, kauft Lebensmittel, hat alle elektrischen Haushaltsgeräte und macht noch dazu Urlaubsreisen ins Ausland. Rechnet man all das zusammen, so übersteigen die Ausgaben die Höhe des Gehaltes bei weitem. So ist es nicht verwunderlich, daß viele Bürger dieses Landes ständig einen Kredit mit dem anderen abbezahlen, ein Loch aufreißen, um ein weiteres zu stopfen. Dieser noch dazu vom Staat geförderte Konsum und die Ausgabenpolitik heizen natürlich die Inflation an, deren Rate gegenwärtig bei rund 30 Prozent im Jahr liegt, in einzelnen Bereichen wie bei den Lebensmitteln sogar weit darüber. In den ländlichen Gebieten ist die Situation noch ernster. Denn hier liegen die Einkommen bis zu zwei Drittel niedriger als in den Städten, was nur teilweise durch agrarische Selbstversorgung wettgemacht werden kann. Nicht zuletzt deshalb haben in den letzten zehn Jahren dreieinhalb Millionen Jugoslawen ihren Geburtsort verlassen, auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebenbedingungen. Im gleichen Zeitraum sind mehr als eine Millionen Einwohner vom Land in die Städte gezogen. Diese Ziffer macht deutlich, welche kommunalen Anstrengungen den Städten abverlangt werden, um diesem Ansturm standzuhalten. Da dies vielerorts wegen Geldmangel der öffentlichen Hand nur zögernd möglich ist, hat sich die Urbanisierung viel langsamer entwickelt als die Industrialisierung. Die Statistik beweist es: Von 13 Millionen Landbewohnern arbeiten nur knapp 7,5 Millionen in der Landwirtschaft, weil man in der Stadt eben leichter Arbeit findet als eine Wohnung. Pendler, die oft bis zu 120 Kilometer Fahrstrecke von ihrem Wohnort zum Arbeitsplatz zurücklegen, gehören zum Alltagsbild der modernen jugoslawischen Gesellschaft.

Als letzter Ausweg, wenn die Geldnöte allzu dringlich werden, bleibt die Annahme einer kurz- bis mittelfristigen Beschäftigung im Ausland. Mehr als eine Million Jugoslawen arbeiten in der Bundesrepublik Deutschland, in der Schweiz und in Österreich, über 300.000 in Australien. Der konjunkturbedingte Gastarbeiterabbau in Westeuropa stellt zahlreiche jugoslawische Familien vor fast unlösbare Probleme. Schon heute gibt es im Land rund 500.000 Arbeitslose, das sind neun Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Kehren tatsächlich alle Gastarbeiter zurück, würde diese schlagartig auf 25 Prozent anwachsen — somit wäre jeder vierte Jugoslawe ohne Arbeit.

Aber noch ist es nicht soweit und der jugoslawische Staat verfügt auch über Patentrezepte zur eventuellen Lösung dieser Probleme. Titos Manager haben mit einigen osteuropäischen Ländern, die industriellen Nachholbedarf haben, Kooperationsverträge abgeschlossen: Jugoslawien stellt Arbeitskräfte und know-how, zum Beispiel für Hotelbauten an der sowjetischen Schwarzmeerküste, zur Verfügung, baut Fabriken in Bulgarien und in der Tschechoslowakei.

Inzwischen können Herr Vuksanovic und seine Familie und mit ihnen hunderttausende anderer Durchschnittsjugoslawen durchaus weiterexistieren. Ersatz für das fehlende

Bargeld bieten die reichlich und preiswert angebotenen Freizeit- und Unterhaltungsmöglichkeiten, die mitunter aber den Charakter von Zwangsbeglückung tragen. In den Jugendkulturzentren etwa ist alles gratis, vom Konzert bis zum Schlittschuhlaufen auf dem Zentrum-eigenen Eisplatz. Erwachsene sind vielfach Mitglied einer Theaterkommune. Betriebe kaufen ganze Vorstellungen auf, gewöhnlich ein oder zweimal pro Monat, und geben an jedes Belegschaftsmitglied zwei Eintrittskarten kostenlos ab. Wie es den sozialistischen Vorstellungen vom Wohlfahrtsstaat entspricht, sind natürlich auch Schulbesuch und medizinische Versorgung kostenlos.

Diese Vorteile kommen auch den Besserverdienenden zugute, deren es gar nicht so wenige gibt. Es sind nicht sosehr die Angehörigen der neuen Klasse, also gehobene Parteifunktionäre, die sich jeden erdenklichen Luxus leisten können. Längst sind diese Leute von hochbezahlten Spitzenmanagern großer Betriebe überrundet worden, die sich neben relativ bescheidenen Gehältern, die bei rund 12.000 Schilling im Monat liegen, am Ende jedes Geschäftsjahres Erfolgsprämien auszahlen lassen, deren Höhe nicht selten die des gesamten Jahresbezuges übersteigt. Das Acht-Zimmer-Haus und der Sechs-Zylinder-Wagen gehen in solchen Fällen ebenfalls zu Lasten der Firma. Auch in dieser Beziehung unterscheidet sich Jugoslawien nur noch wenig vom vielgeschmähten kapitalistischen Westen.

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