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Grenzen der Sozialpolitik

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Der Autor ist Referent der Sozialpolitischen Abteilung der Bundeswirtschaftskammer, vertritt im folgenden Beitrag aber, den er auch vor der Arbeitsgemeinschaft für Sozialpolitik und Sozialreform am Karl-Kummer-Institut zur Diskussion stellte, seine persönliche Meinung.

Vor 18 Jahren schrieb Univ.-Prof. Burghardt eine längere, grundlegende Abhandlung über das Thema „Wirkungen und Grenzen der Sozialpolitik“. Es gab also bereits damals kritische Stimmen, die versuchten, die Möglichkeiten der Sozialpolitik abzuschätzen und ihre finanziellen Grenzen auszuloten.

Die Budgetsätze der Sozialversicherungsträger beliefen sich damals auf 13 Milliarden Schilling. Seither verdoppelten sie sich alle fünf Jahre, bis schließlich 1976 die 100-Milliar-den-Schilling-Grenze überschritten wurde. Der Voranschlag für 1978 sah 125 Milliarden Schilling vor.

Damals hatten die Mittel der Sozialversicherung einen Anteil von 8,3% am Bruttonationalprodukt, 1976 bereits von 14,1%. 1960 waren rund 70% der Bevölkerung vom Schutz der Krankenversicherung erfaßt, 1977 bereits 98,6%. Im Jahre 1960 betrug der Gesamtstand an Pensionen und Renten 1,657.000; 1977 bereits 2,028.000.

1960 entfielen auf 1000 unselbständige Erwerbstätige 357 Pensionisten,

1976 bereits 470 - 1960 betrug diese Relation bei den Selbständigen 424, bis 1977 verschlechterte sie sich auf 790. Der Ausgleichszulagenrichtsatz für ein Ehepaar erhöhte sich.von 1000 Schilling im Jahr 1960 auf gegenwärtig 4731 Schilling.

1960 machten die Abzüge bei Arbeitnehmern für Lohnsteuer und Sozialversicherung 16,58% der Bruttolohn- und Bruttogehaltssumme aus;

1977 waren es bereits 23,30%. Das entspricht einer Steigerung der Abgabenquote um 40,56% in 17 Jahren.

Diese Zahlenbeispiele zeigen sehr deutlich, daß die Entwicklung der Sozialversicherung damals noch keine finanziellen Grenzen erreicht hatte. Es fallt angesichts dieser großen Steigerungsraten auch schwer, im heutigen Zustand eine solche Grenze zu sehen. Aus dem Datenma-

Im Mittelalter führte der Zehent (Abgabe eines Zehntels der Einkünfte) zu den Bauernkriegen; heute müssen schon 40% des Nationalprodukts an den Staat abgeführt werden. Die Umsatzsteuer lag vor dem Ersten Weltkrieg bei fünf Promille und geht heute bis zu 30%. terial wäre diese Behauptung jedenfalls nicht zu stützen, zumindest nicht durch einfache Trendextrapolation.

Nach Prof. Burghardt ist sowohl Ziel als auch Maß der Sozialpolitik das Gemeinwohl, das sich letztendlich nur am einzelnen vollziehen kann. Der kritische Punkt ist dann erreicht, wenn die Akte der Sozialpolitik den angestrebten Gemeinwohlzweck in Einzelfällen nicht mehr erreichen helfen. .

Eine Mehrforderung kann zu einem Abbau der ökonomischen Substanz und zum Abbau der volkswirtschaftlichen Leistungsbereitschaft führen. Unternehmen, die bisher gerade noch existenzfähig waren, können in ihrem Bestand gefährdet werden. Insgesamt also würden Vorteile einer begünstigten durch Nachteile einer anderen Gruppe, die ebenfalls Gegenstand der Sorge der Sozialpolitik ist, überdeckt werden. Der Gemeinwohlzweck, ein das Ganze der Gesellschaft betreffender Zustand, ist dann nicht erreicht.

Und hier beginnt sich tatsächlich eine Grenze der Sozialpolitik abzuzeichnen - nicht nur im Ausland, um nur an Dänemarks Mogens Glistryp, die Steuer-Emigration Ingmar Bergmans aus Schweden, oder den Volksbegehren-Protest in Kalifornien zu erinnern. Auch in Österreich mehren sich kritische Stimmen, die ihr Unbehagen über die hohen Belastungen durch Steuern und Abgaben aller Art zum Ausdruck bringen.

Vor allem aber werden mehr und mehr Beispiele dafür aufgezeigt, daß die Sozialpolitik einerseits ihren eigentlichen Zweck, nämlich Einkommenssicherung für den durchschnittlichen Mindestbedarf, zum Teil schon weit überschritten hat, während anderseits elementare Bedürfnisse durch das Netz der sozialen Sicherheit fallen und unbefriedigt bleiben. Einige Beispiele sollen dies aufzeigen:

• Stirbt ein junger Familienvater, müssen Witwe und Halbwaisen mit einer Pension am Rande des Existenzminimums auskommen, während eine Pensionistin nach dem Tod ihres Gatten mit einer sechzigprozentigen Witwenpension echt „dazuverdient“. In extremen Fällen kann eine Witwe aus sechs verschiedenen Titeln Leistungen der Sozialversicherung (im weiteren Sinne) beziehen, nämlich eigene und Witwenleistungen der Pensions- und der Unfallversicherung und der Kriegsopferversorgung. Dagegen sind 350.000 Österreicher Ausgleichszulagenempfänger und somit am gesetzlich definierten Existenzminimum.

• Einerseits werden Bagatellme-dikamente (von der Rezeptgebühr abgesehen) von den Krankenkassen anstandslos bezahlt. Andererseits fällt die Pflege von chronisch Kranken nicht mehr unter die Aufgaben der Krankenversicherung, weil die Gebrechen eben nicht mehr durch Krankenbehandlung gebessert werden können.

• Wenn ein Arbeitnehmer arbeitslos wird, gelten die Zeiten der Arbeitslosigkeit in der Pensionsversicherung als Ersatzzeit. Hingegen werden jene Zeiten, die eine Frau der Erziehung ihrer Kinder gewidmet hat, für die Pension in keiner Weise berücksichtigt.

• Jeder Arbeitnehmer bzw. Leistungsempfänger der Sozialversicherung erhält monatlich eine Wohnungsbeihilfe von 30 Schilling- auch Generaldirektoren. Der Aufwand dafür beträgt pro Jahr über zwei Milliarden Schilling. Hingegen lebten 1976 in Wien 30% aller Familien mit einem Kind unter vier Jahren in einer Zimmer-Küche-Wohnung.

• Bis 1969 wurde den Müttern als Relikt aus der Reichsversicherungsordnung ein Stillgeld von zwei Schilling täglich gewährt, um die Mütter dazu anzuhalten, ihre Kinder selbst zu stillen. Mit 1. Jänner 1969 wurde dieses Stillgeld in einen erhöhten Entbindungsbeitrag umgewandelt. Die einige Jahre später erfolgte Schaffung der Geburtenbeihüfe von 16.000 Schilling machte den Entbindungsbeitrag von 2000 Schilling eigentlich überflüssig. Doch die Krankenversicherung wendet nach wie vor 100 Millionen Schilling im Jahr dafür auf.

• Ebenfalls durch die Entwicklung als überholt anzusehen ist der Bestattungskostenbeitrag. Die meisten Menschen haben Privatversicherungen abgeschloseen, viele Kollektivverträge sehen zusätzliche Leistungen vor. Angesichts des vielfach betriebenen Wettstreits um das teurere Begräbnis könnte wirklich daran gedacht werden, den Krankenkassen die dafür im Jahr aufgewendeten 459 Millionen Schilling zu ersparen.

• Im Hinblick auf die weitgehende Motorisierung der Bevölkerung erscheint es fraglich, ob die Krankenkassen 390 Millionen Schilling jährlich für Fahrtkostenersatz beim Arztbesuch bzw. für Transportkosten aufwenden sollen.

Unter Berücksichtigung dieser Beispiele erscheint es daher nicht verwunderlich, wenn bereits rund 40% des Bruttonationalprodukts für Zwecke der Umverteilung aufgewendet werden müssen. Trotz dieses gigantischen Aufwandes bleiben jedoch noch immer genügend Personen von den Segnungen der sozialen

Die jährlich aufzuwendenden zwei Milliarden Schilling Wohnungsbeihilfen ä 30 Schilling im Monat würden ausreichen, jährlich 55.000 zinsenlose Zehn-Jahres-Kredite zu je 100.000 Schilling zu finanzieren, wenn der gleiche Betrag in einem Fonds gesammelt würde.

Wohlfahrt ausgeschlossen, während andere im Uberfluß beteilt werden.

Es zeigt sich also, daß mit einem immer steigenden Mehr an Aufwand der angestrebte Zweck der Sozialversicherung, nämlich die Gemeinwohlsicherung, nicht erreicht werden kann - zumal auch die Ausgaben für soziale Sicherung nicht mehr grenzenlos gesteigert werden können. Dies zeigen die mühsamen Versuche des Sozialversicherungsänderungs-gesetzes 1977 und des Sozialrechts-änderungsgesetzes 1978, die drohenden Lücken in den Budgets der Sozialversicherungsträger durch umfangreiche Umschichtungen der Mittel abzuwenden. Trotz dieser Umschichtungen werden im Budget 1979 noch immer 26 Milliarden Schilling als Beitrag des Bundes zur Sozialversicherung veranschlagt.

Es liegt daher nahe, eine Neuorientierung anzustreben, wenn trotz eines gewaltigen finanziellen Aufwandes nicht jede Not gelindert und nicht jede Armut beseitigt werden kann und überdies zunehmend Widerstände bei der Beschaffung der dafür notwendigen Mittel auftreten. Deshalb müssen auch im sozialen Bereich Begriffe wie Eigeninitiative, Selbsthüfe und individuelle Verantwortung wiedergewonnen werden.

Heute geht es um die Frage, ob wir nicht verschiedentlich Mittel für soziale Maßnahmen effizienter und gezielter einsetzen könnten. Nicht „soziale Demontage“ ist das Ziel solcher Überlegungen, sondern Umschichtung, gezielter Einsatz, Freimachen der Mittel für dringenderen Einsatz. Sozialpolitik muß heute auch daran gemessen werden, welche anderen Maßnahmen wegen der fehlenden finanziellen Mittel deshalb nicht verwirklicht werden können oder zumindest zurückgestellt werden müssen.

Die von Prof. Burghardt vor nahezu 20 Jahren definierte sachliche und moralisch gerechtfertigte Anspruchsschwelle der Sozialpolitik ist heute vielleicht aktueller noch als damals. Nach Burghardt ist diese Schwelle überschritten, wenn

1. durch ungedeckte Mehrforderungen die Eigentums- und Ein-

Obwohl es das heutige System ermöglicht, daß eine Witwe im Extremfall aus sechs verschiedenen Titeln Sozialversicherungsleistungen bezieht, wird nun die Einführung einer Witwerpension zur Diskussion gestellt, die jährlich weitere vier Milliarden Schilling verschlingen würde. kommensordnung geändert und der Geldwert erheblich reduziert wird;

2. die Anspruchschancen Attraktionen für das Entstehen sozialparasitärer Gruppen bilden und

3. die nationale Kapazität und die bestehende Sozialproduktgröße reduziert oder, was wahrscheinlicher ist, die Entwicklungskurve der Fortschrittsrate in ihrem Verlauf abgeflacht wird;

4. die Vollbeschäftigung (d. h. eine optimal geringe Arbeitslosenziffer), weil die Produktions- oder die Marktelemente nicht beachtet wurden, gefährdet wird.

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