Unerträglich ungerecht

19451960198020002020

Ein Durchschnittsverdiener, der eine Familie erhalten will, muß heute entweder ein Wahnsinniger oder ein heilloser Idealist sein.

19451960198020002020

Ein Durchschnittsverdiener, der eine Familie erhalten will, muß heute entweder ein Wahnsinniger oder ein heilloser Idealist sein.

Werbung
Werbung
Werbung

Wieder einmal sorgt unser Steuersystem für Debatten. So hat etwa die gesamtwirtschaftliche Belastungsquote - auch im internationalen Vergleich - eine Rekordhöhe erreicht. Man spricht (wieder einmal) über grundlegende Änderungen. Arbeit soll entlastet, Belastung von Umwelt und natürlichen Ressourcen soll verteuert werden.

So wichtig das alles auch sein mag, muß dennoch verwundern, daß ein ganz wichtiges Faktum - auch von den Gewerkschaften - so gut wie gar nicht diskutiert wird. Es ist dies die Tatsache, daß unser Steuersystem bis zur Unerträglichkeit unfair und ungerecht geworden ist. Man kassiert nur mehr einfach drauf los. Das könnte verhängnisvolle Folgen haben. Kleine Einkommen werden heute übermäßig belastet, und der Vorteil derer, die vermögend sind, wächst. Diese Disparität fällt mit dem heutigen Auseinanderdriften der Einkommen an sich zusammen.

Hauptelement eines gerechten Steuersystems ist, daß jeder nach seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit herangezogen wird. Dies wird vor allem durch die Progression, also steigende Prozentsätze der Besteuerung bei höheren Einkommen, erreicht. Es soll so eine Belastungskurve entstehen, die allmählich anwächst, bei zunehmendem Wohlstand dann immer deutlichere Zugriffe ergibt und auf hohem Niveau dort wieder verflacht, wo der - politisch zu entscheidende - Höchststeuersatz liegt. Das sind bei uns derzeit 50 Prozent. Hier ebenso wie bei der Besteuerung von Kapital(gesellschaften) spielen bekanntlich auch volkswirtschaftliche Gesichtspunkte eine große Rolle. Unverzichtbares Investitionskapital soll nicht ins Ausland "vertrieben" werden. Hat man dieses Prinzip vor Augen, kann man die jetzt geltende und weiterhin prolongierte Progression nur noch als Witz betrachten. Die "sanfte" Zone der Besteuerung ärmerer Menschen endet im ersten Zehn-Prozent-Schritt schon bei einem Jahreseinkommen von 50.000 (!), in der folgenden 22-Prozent-Etappe bereits bei 150.000 Schilling. Dann geht es munter mit 32 Prozent weiter, und bei 300.000 Schilling - also 25.000 Schilling pro Monat brutto - greift auf das, was darüber hinausgeht, der bereits drastische Steuersatz von 42 Prozent. Das bedeutet, daß im Hauptbereich der Arbeitnehmereinkommen die Progressionskurve sehr hoch, aber flach verläuft und damit ihre Wirkung einbüßt. Die gesamte Abgabenbelastung wird aber auch durch die Beiträge zur Sozialversicherung mitbestimmt. Diese sind bekanntlich nicht progressiv gestaltet, sondern hören ab der Höchstbeitragsgrundlage auf. Damit wirkt dieser Teil der Ablieferungspflicht sogar degressiv!

Das Ergebnis spricht jeder gerechten Verteilung der Last an öffentlichen Abgaben Hohn. Belegen wir das anhand einer Berechnung, die Lohnsteuer und Sozialbeiträge übers ganze Jahr zusammenfaßt, also auch die Begünstigung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld einbezieht. Ein Angestellter mit einem wohl keineswegs üppigen Gehalt von 26.000 Schilling muß danach bereits Abzüge von 30,18 Prozent insgesamt hinnehmen. Sein schon wesentlich besser gestellter Kollege, der mit 36.000 Schilling "einen Zehner" mehr hat, kommt aber auch nur auf eine Gesamtbelastung von 33,76 Prozent. Der Chef beider, ein 75.000 Schilling-Bezieher, steht mit seinem Abzug von 36,9 Prozent im Vergleich geradezu fabelhaft da. Dabei haben wir bei unserer Betrachtung noch all das weggelassen, was an indirekten Steuern und sonstigen Abgaben zu zahlen ist, die von der Einkommenshöhe unabhängig sind. Sie reichen von der Umsatzsteuer als Bestandteil aller Preise für Waren und Dienstleistungen bis zur Autobahnvignette, von Rundfunkgebühren bis zu Versicherungssteuern. All diese Einnahmequellen des Staates fallen immer mehr ins Gewicht und stellen bereits zwei Drittel des Steueraufkommens. Sie haben - wiederum unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit betrachtet - die fatale Eigenschaft, die wirtschaftlich Schwachen relativ viel stärker zu belasten. Man hat sie daher immer als eine "unsoziale" Form der Besteuerung betrachtet. Bedenken wir nur: Ein absoluter Kleinverdiener (männlichen oder weiblichen Geschlechts) mit 12.000 Schilling pro Monat muß zwar zunächst "nur" 806 Schilling Steuer zahlen, was aber in unserer Gesamtbetrachtung im Jahr immerhin schon mehr als 30.500 Schilling ausmacht und damit eine Belastung von mehr als 18 Prozent; von dem, was er zum Leben braucht, muß er aber auch Umsatzsteuer bezahlen, und wenn man das alles zusammenrechnet, wird hier in der Nähe der Armutsgrenze bereits etwa 30 Prozent von dem Geld weggenommen, das eigentlich zur Gänze für den notwendigsten Lebensbedarf gebraucht wird!

Rücksichtsloser Zugriff & Schweigen Alle diese geradezu erschreckenden Ergebnisse einer kritischen Betrachtung unseres Steuersystems werden in der offiziellen Diskussion unter den Tisch fallen gelassen. Die Menschen spüren beides - den rücksichtslosen Zugriff der öffentlichen Hand und das Schweigen der pragmatisierten Interessenswahrer. Sie spüren ebenso, daß es sich die "Großen" viel besser richten können. Deren finanzieller Spielraum ist an sich wesentlich umfangreicher, und wenn sie Einkommen aus Besitz haben, sieht das ganze noch viel besser aus. Hier gibt es ja die berühmten "Gestaltungsmöglichkeiten". Das Ganze hat, was sehr zu betonen ist, mit Stand und Klasse nichts zu tun. Kleinen Gewerbetreibenden und Landwirten geht es genau so dreckig, wie Hilfsarbeiterinnen oder Handelsangestellten. Böses Blut entsteht, ein - zumindest bisher noch - dumpfes Unbehagen. Das ist die Kehrseite des vielgepriesenen Wohlstands. Widerstand wächst, wie immer, wenn das System als ungerecht empfunden wird. Die Folge ist Flucht in Pfusch und Schwarzarbeit, in die versteckte betriebliche Leistung "ohne Rechnung". Viel schlimmer noch ist aber, daß gerade junge Leute für sich oft gar keine Chance zu finanzieller Disposition sehen können. Sie werden nicht nur übermäßig geschröpft, sondern sie sind auch Opfer eines überholten Entlohnungssystems, bei dem Jahresringe mehr zählen, als Einsatz und Leistung. Es gibt keine Aussicht für sie, sich etwas auf die Seite zu legen - dabei sollen sie Existenz und Familie aufbauen. Ein Durchschnittsverdiener, der eine nicht erwerbstätige Frau mit mehreren Kindern erhalten will, muß heute entweder ein Wahnsinniger oder ein heilloser Idealist sein. Jedenfalls ist er zum Armenhäusler verurteilt im Vergleich zu einem Paar von zwei Arrivierten, das eine Einhundehe führt und in einer mietergeschützten Wohnung haust.

Man müßte darüber nachdenken, ob nicht ein gerechtes Steuersystem wieder mehr Zufriedenheit und Vertrauen in die etablierte Politik herstellen könnte. Mutig wäre Neues zu überlegen. Eine allgemeine Refundierung etwa der Umsatzsteuer für den absoluten existentiellen Lebensbedarf (einschließlich der Kinder) oder eine ermäßigte Sozialversicherung im untersten Einkommensbereich. Eine gerechtere Lastenverteilung überhaupt, die vor allem wieder eine funktionierende, leistungsgerechte Progression herstellen müßte. Noch besteht die Chance der Koalition, das in Angriff zu nehmen. Sie dürfte keinesfalls versäumt werden. Es besteht sonst die Gefahr, daß ein Maß an Unzufriedenheit und Widerstand entsteht, das unser gesamtes System in Frage stellt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung