Kellner - © Foto: iStock / SolStock

"Das AMS soll sich bekennen"

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Was ändert sich für Menschen mit Behinderung durch Türkis-Grün? Im Vergleich zur Vorgängerregierung verorten Sozialexperten im Koalitionspakt Verbesserungen. Mit Ausnahme der Beschäftigungspolitik ...

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Was ändert sich für Menschen mit Behinderung durch Türkis-Grün? Im Vergleich zur Vorgängerregierung verorten Sozialexperten im Koalitionspakt Verbesserungen. Mit Ausnahme der Beschäftigungspolitik ...

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Eine Verbesserung ist es schon deshalb, weil es überhaupt Thema ist.“ Wer mit Hansjörg Nagelschmidt von der Interessensvertretung ÖZIV über das Kapitel „Menschen mit Behinderung/Inklusion“ im neuen Regierungsprogramm spricht, dem wird eines schnell klar: Allzu hoch hat die türkisblaue Vorgängerregierung die Latte nicht gelegt, um beim neuen Abkommen von „Verbesserungen“ sprechen zu können. Doch trotz diverser Pluspunkte bleibt auch die neue Regierung aus ÖVP und Grünen in einigen Bereichen hinter den Erwartungen mancher Expertinnen und Experten zurück. Insgesamt drei Seiten widmen Türkise und Grüne dem Bereich „Menschen mit Behinderung/Inklusion“ in ihrem
Koalitionsabkommen. Zum Vergleich: Dem Thema „Migration und Asyl“ räumen die Koalitionäre insgesamt elf Seiten ein, das Kapitel „Justiz und Konsumentenschutz“ bringt es auf 13 Seiten. Vorsichtig formuliert: Inklusion ist im neuen Koalitionsabkommen nicht gerade überpräsent. Aber immerhin bekommen die Anliegen von Menschen mit Behinderung nun ein eigenes Unterkapitel, ein solches fehlte im Abkommen der türkis-blauen Koalition.

„Retro-Politik wird wieder relativiert“

„Insgesamt bin ich sehr erleichtert, dass wieder politischer Bewegungsraum geschaffen wird und die vorherige RetroPolitik relativiert wird“, erklärt Volker Schönwiese, Experte für Integrations- und Behindertenpädagogik von der Universität Innsbruck, auf Nachfrage. Fortschritte sieht er vor allem im Bereich Bildung, wo sich ÖVP und Grüne seiner Meinung nach wieder auf deutlich inklusivere Pfade begeben wollen, wenn auch „vorsichtig“. „Kinder mit speziellem Förderbedarf bzw. Behinderung“ sollen laut Regierungsprogramm „bestmöglich in den Regelunterricht miteinbezogen“ werden. Sonderpädagogik soll dort angeboten werden, „wo immer sie nötig ist“. Das steht im deutlichen Kontrast zu den Plänen der Vorgängerregierung: Dort war noch eine Rückkehr zu den Sonderschulen und die Abschaffung der Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrer für inklusive Pädagogik vorgesehen, wie Schönwiese erklärt. Auch Nagelschmidt befürwortet den nun eingeschlagenen Weg eines inklusiven Regelunterrichts.

„Berührungspunkte“ zwischen Menschen mit und ohne Behinderung seien dringend notwendig, um die „Barriere in den Köpfen abzubauen“. Im Schulbereich könne „eine Trennung von Anfang an und auf Dauer“ daher wenig zielführend sein. Er mahnt jedoch auch zur Vorsicht: Menschen mit Behinderung zu 100 Prozent in den vorgegeben Stundenplan miteinzubeziehen, sei eine „durchaus komplexe Diskussion“. Vieles spreche dafür, das Unterfangen sei jedoch kein Selbstläufer. Stichwort Ressourcen. So brauche es spezielle Unterrichtsmethoden, Lehrerfortbildungen, einen sensiblen Umgang in puncto Leistungsunterschiede und nicht zuletzt die passende Infrastruktur.

Noch weniger „Berührungspunkte“ als im Klassenzimmer gibt es laut Nagelschmidt jedoch in den Betrieben. In Österreich sei der Nachholbedarf in Sachen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik besonders groß. Doch gerade hier finde sich im Koalitionspapier wenig Substantielles. „Über ein paar Überschriften“ gehe es oft nicht hinaus, „mehr als ein paar Zeilen Absichtserklärungen“ fänden sich im Programm nicht – „von konkreten Maßnahmen“ keine Spur, kritisiert Nagelschmidt. Ähnlich sieht das auch Michael Svoboda, Präsident des KOBV-Behindertenverbands. Im Bereich der Beschäftigung fänden sich „zu wenig konkrete Inhalte“ im türkis-grünen Abkommen. Er hofft hier auf den Grünen-Sozialminister Rudolf Anschober, der ankündigte, diesbezüglich möglichst zeitnah eine „Task Force“ einberufen zu wollen.

Ausgleichstaxe erhöhen?

Dass die Integration von Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt in den letzten Jahren stark vernachlässigt wurde, lässt sich an einer einzigen Zahl festmachen: der Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung. Diese stieg in den letzten zehn Jahren um 140 Prozent. „Ohne aktive Maßnahmen“ seitens der Regierung, so Schönwiese von der Uni Innsbruck, werde hier wenig weitergehen – „der freie Markt nimmt Menschen mit Behinderungen nicht ausreichend auf. Bewusstseinsbildung ist gut, reicht aber nicht.“ Im Regierungsabkommen ist explizit von einer „Beschäftigungsoffensive“ die Rede, um wieder „mehr Menschen mit Behinderung als bisher in Erwerbsarbeit zu bringen und Unternehmen stärker dazu zu ermutigen, Menschen mit Behinderung einzustellen“. Wie das genau vonstatten gehen soll, bleibt dann aber offen. Aktuell müssen Unternehmen mit mehr als 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gemäß dem Behinderteneinstellungsgesetz pro 25 Beschäftigten jeweils eine Person mit Behinderung einstellen. Ist das nicht der Fall, ist die sogenannte Ausgleichstaxe zu zahlen. Diese beträgt ab diesem Jahr, abhängig von der Größe des Unternehmens, zwischen 267 und 398 Euro pro Monat und nicht besetzter Pflichtstelle. Für Schönwiese greift das zu kurz. Er schlägt vor, die Ausgleichstaxe zu erhöhen, um mehr Druck auf die Unternehmen auszuüben. Von der Wirkung solcher Maßnahmen wenig überzeugt ist hingegen Herbert Pichler, Präsident des Österreichischen Behindertenrats. 97 Prozent der österreichischen Unternehmen, so Pichler, hätten ohnehin weniger als 25 Angestellte. Und für jene, für die die Ausgleichstaxe tatsächlich relevant ist, seien die Beträge „nicht mehr als ein Taschengeld“. Die Wirkung der Taxe stellt Pichler daher stark in Frage.

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