MEHR SEHEN als nur die Behinderung

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Die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung ist in letzter Zeit explodiert. Dass es auch ganz anders geht, zeigt ein Besuch in einer Buchbinderei im Weinviertel.

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Die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung ist in letzter Zeit explodiert. Dass es auch ganz anders geht, zeigt ein Besuch in einer Buchbinderei im Weinviertel.

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"Wir versuchen immer alles, um gerade jungen Leuten eine Chance zu geben, die vielleicht keinen Schulabschluss haben und schwer zu vermitteln sind. Wir probieren es einfach für zwei Monate und schauen: Was wird daraus?", erzählt Geschäftsführer Peter Farthofer. Seit 30 Jahren arbeitet die G.G.-Buchbinderei in Hollabrunn mit Menschen mit verschiedensten Beeinträchtigungen zusammen.

Von "Behinderung" will Farthofer nicht sprechen: "Wir haben festgestellt, dass diese Leute oft in gewissen Bereichen besonders gut sind. Etwa können sie sich bis zu acht Stunden unheimlich gut auf eine Aufgabe konzentrieren." Also werden diese Mitarbeiter - derzeit sind es zwei von 30 - dort eingesetzt, wo sie ihre Stärken optimal einbringen können.

Einen Stock tiefer in der weitläufigen Produktionshalle: Die großen Buchdeckel-Maschinen werken in lautstarker Regelmäßigkeit, der Geruch von Buchleim liegt in der Luft. Der 44-jährige Josef Schmid legt Kartons in die große Schneidemaschine ein, nimmt sie geschnitten wieder heraus und schlichtet sie weg. Die Ärmel seines roten Pullis hat er zurückgekrempelt. Zwischendurch kehrt er den Asphaltboden oder stapelt Bücher. Diesen Job erledigt der lernschwache und motorisch beeinträchtigte Mann seit 22 Jahren. Er wird von der mobilen Wohnassistenz der Caritas unterstützt. Sein Erfolg liegt auch in der engen Zusammenarbeit zwischen dem Betrieb und der Caritas begründet.

Spaß am eigenen Job

Die Arbeit macht Schmid sichtlich Spaß. "Es passt einfach alles", sagt er und strahlt über das ganze Gesicht. Sein junger Kollege Karl Bazala steht mit ihm seit drei Jahren an der gleichen Maschine. Die beiden sind ein eingespieltes Team. "Ich werfe ein bisschen ein Auge auf ihn. Er hat seine speziellen Aufgaben und das funktioniert wunderbar", erklärt Bazala.

Schmid ist bestens in das Team integriert. "Vor allem die Frauen haben schon immer besonders auf ihn geachtet: Ist er im Winter ausreichend angezogen? Trinkt er im Sommer genug? Hat er Zahnweh oder andere Beschwerden, die er nicht so artikulieren kann?", berichtet Geschäftsführer Farthofer. Mitarbeiterinnen mit Beeinträchtigungen arbeiten in der Buchbinderei nicht. Laut einer Studie des Sozialforschungs-Instituts Sofia stehen die Arbeitsmarkt-Chancen von betroffenen Frauen noch schlechter. Bei ihnen kommen als zusätzliche Hürden zur Behinderung noch die Frage der Kinderbetreuung und der Mobilität im ländlichen Raum hinzu.

Viele Betriebe drücken sich

Wer aus der sozialen Betreuung kommt und einen regulären Arbeitsplatz ergattert, kann sich glücklich schätzen. Denn obwohl Betriebe ab 25 Mitarbeitern eine Person mit Behinderung einstellen müssen, erfüllt nur jedes fünfte Unternehmen diese gesetzliche Pflicht. 80 Prozent der Betriebe zahlen lieber eine Ausgleichstaxe.

Seit 2005 ist die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung um satte 66 Prozent gestiegen - um das Fünffache stärker als die Arbeitslosigkeit von Menschen ohne Behinderung. Josef Schönhofer, Leiter der Arbeitsassistenz bei der Caritas in Hollabrunn, unterstützt lernschwache und körperlich behinderte Menschen bei der Arbeitssuche - keine einfache Aufgabe. Der ehemalige Landwirt ist durch verschiedene Abnützungserscheinungen selbst körperlich behindert - und arbeitet dennoch Vollzeit. Das Gesetz sieht vor, dass Menschen mit Behinderung mindestens 50 Prozent der regulären Arbeitsleistung erbringen können sollten. Ansonsten gelten sie als nicht mehr förderbar.

Durch die schwierige Wirtschaftslage werden die Anforderungsprofile für ausgeschriebene Stellen immer strenger. "Da können unsere Kundinnen und Kunden oft nicht mehr mithalten", weiß Schönhofer. Deshalb hat die Caritas nun als weiteres Kriterium bei der Erstellung eines Fähigkeitsprofils ihrer Kunden die Vermittlungsfähigkeit eingeführt: Ist diese Person realistisch betrachtet in den österreichischen Arbeitsmarkt integrierbar?

Nicht nur in der Privatwirtschaft, auch im öffentlichen Dienst ist es heute viel schwieriger, mit einer Behinderung Fuß zu fassen. Auch bei den Invaliditäts-Pensionen hat man die Zugangs-Bestimmungen verschärft. "Leute, die körperlich am Ende sind, werden von Ärzten zunehmend als arbeitsfähig eingestuft", kritisiert Schönhofer.

Schlechte Pensions-Aussichten

Einer seiner Kunden ist Franz Resch. Der 49-Jährige ist schon seit drei Jahren auf Arbeitssuche. Mit seinen körperlichen Einschränkungen ist er extrem schwer vermittelbar: Er hat seit langem große Probleme mit der Hüfte, den Bandscheiben, der Wirbelsäule und er ist auf einem Auge blind. "Die Arbeitssuche ist ein ganz, ganz schwieriges Unterfangen", sagt der gelernte Sachbearbeiter desillusioniert. "Die Behinderung schreckt viele ab. Man wird einfach anders behandelt."

Seine finanzielle Situation bezeichnet er als Katastrophe: Derzeit lebt Resch von 930 Euro Arbeitslosengeld. Viele in seiner Lage müssen sogar mit 600 bis 700 Euro auskommen. Täglich sichtet er die Jobbörsen oder fragt im Bekanntenkreis herum. Beim AMS und der Arbeitsassistenz der Caritas hat er regelmäßig Termine.

Der alleinstehende Mann will sich trotz allem nicht gehen lassen. Nach wie vor steht er jeden Tag um 6 Uhr Früh auf. "Ich schaue, dass ich jeden Tag rauskomme und spazieren gehe. Bei mir zu Hause kann man vom Fußboden essen", betont er. Bekannte in einer ähnlichen Situation hat er nicht. "Das macht es noch schwieriger, weil die anderen sich nicht in meine Lage versetzen können. Sie haben nur schlaue Ratschläge parat." Bis zur Pension fehlen ihm noch 15 Arbeitsjahre. Die Aussichten darauf stehen schlecht.

Erst abgestempelt - nun entdeckt

Zurück in der Buchbinderei in Hollabrunn schlichtet Stefan Öller Stapel mit A4-Blättern auf eine Palette. Der athletisch gebaute junge Mann mit den dunklen Haaren bewegt sich flink und wendig zwischen Maschine und Palette hin und her."Auf den Millimeter genau schafft er das Stapeln, wirklich verblüffend", lobt der technische Betriebsleiter Josef Krenn. Bis zu 20 Tonnen bewegt Öller am Tag.

Vor einem halben Jahr hat der 30-Jährige in der Buchbinderei endlich den ersten Job gefunden. Er ist auch für die Qualitätskontrolle zuständig und entnimmt Stichproben. "Da muss ich sehr schnell sein, das ist ein ständiger Kampf. Manche schaffen das gar nicht, aber mir liegt das", sagt er stolz.

Nicht immer ging es ihm so gut wie heute. Durch den Besuch einer Sonderschule wurden seine beruflichen Perspektiven schon früh stark eingeschränkt. "Die Sonderschule wäre in seinem Fall sicher nicht nötig gewesen", sind sich Geschäftsführer Farthofer und Caritas-Mitarbeiter Schönhofer einig. Danach hat Öller eine Tischler-Lehre im geschützten Rahmen beim Wifi positiv abgeschlossen, aber jahrelang keinen Job gefunden. "Ich habe das Gefühl, dass er von zu Hause zu viel Druck bekommen hat. Er ist ja geistig nicht beeinträchtigt, sondern hat sich nur in seinem Schneckenhaus versteckt", erinnert sich Farthofer. "Jetzt macht er seinen Job bravourös und bekommt dafür viel Lob, was er offenbar nie gewöhnt war."

Beim ersten Gespräch mit dem Geschäftsführer zeigte sich Öller sehr verschlossen. Nach den ersten beiden Arbeitstagen hat er zum ersten Mal gelächelt. Die Arbeitsroutine tut ihm gut: Mit dem Auto fährt er morgens in die Firma und isst zu Mittag gemeinsam mit den Kollegen. Endlich verdient er sein eigenes Geld. Sein Lebensgefühl ist ein ganz neues: "Man kennt die Arbeitslosenquote, die ärger ist denn je. Jetzt lese ich darüber und fühle mich befreit: Ich gehöre nicht mehr dazu."

Öller scheint in keiner Statistik zur Beschäftigungssituation von Menschen mit Behinderung auf. Dort werden nur die offiziell als benachteiligt eingestuften Menschen berücksichtigt. "Es gibt aber viele, etwa mit einer 30-prozentigen Behinderung, die es immer schwerer haben, einen Job zu finden", weiß Schönhofer. Oft handelt es sich um ältere Menschen, die keine Ausbildung, keinen Lehrabschluss, keinen Führerschein haben. Sie erhalten immer schwieriger Förderleistungen. Eine große Risikogruppe sind auch lernschwache junge Menschen.

Inzwischen benötigt Öller die Unterstützung der Caritas nicht mehr. Im Nachhinein ist er froh, sich auf die Tipps seines Betreuers eingelassen zu haben. Anfangs hatte er große Hemmungen: "Im Folder stand: ,Für Lernschwache und körperlich Behinderte'. Da habe ich mir gedacht: Das bin ich nicht. Da bin ich falsch", resümiert er.

In der Tat ist es eine schwierige Frage, wer nun als "behindert" zu gelten hat. Wenn Menschen vom AMS zur Arbeitsassistenz geschickt werden, müssen sie oft eine Hemmschwelle überwinden. Schönhofer versucht seinen Kunden die Berührungsängste zu nehmen und ihr gesamtes soziales Umfeld miteinzubeziehen, bevor es an die Jobsuche geht: Wohnort, Mobilität, finanzielle Fragen.

So aufgeschlossen wie in der Buchbinderei in Hollabrunn wird mit Mitarbeitern mit besonderen Bedürfnissen selten umgegangen. Doch der positive Zugang strahlt inzwischen auf andere Unternehmen in der Region aus. "Der Interspar hat nachgezogen und auch Menschen mit Behinderung angestellt", freut sich Geschäftsführer Farthofer. Er ist gespannt, wie sich Mitarbeiter Öller weiter entwickeln wird. "Für uns ist das ein Steckenpferd, ihn anzuspornen und zu schauen: Wie weit können wir ihn noch bringen?"

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