Die Lehrstätte für LEBENSNÄHE

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noch leisten meist osteuropäerinnen Pflegearbeit. an der Fachschule für sozialberufe in stockerau wird heimisches Pflegepersonal ausgebildet.

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noch leisten meist osteuropäerinnen Pflegearbeit. an der Fachschule für sozialberufe in stockerau wird heimisches Pflegepersonal ausgebildet.

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Wie reagieren die Leute in eurem Umfeld auf Menschen im Rollstuhl oder mit anderen Behinderungen?", fragt Pädagogin Karin Fürst in die Klasse. Ein Dutzend Hände schnellt nach oben. Eine Schülerin in der hintersten Reihe erzählt von einem Familienmitglied mit Down-Syndrom. "Der Opa hat das immer ignoriert und totgeschwiegen, dass sein Kind offensichtlich Trisonomie 21 hat." In der Klasse entsteht eine rege Diskussion, was wohl der Grund dafür war und wie man anders damit umgehen könnte. "Wenn Ihr nächstes Jahr das Praktikum im Behinderten-Bereich macht, werdet Ihr auch Zeit brauchen, um Euch anzunähern", erklärt Fürst. "Begegnet den Menschen mit Achtung und Respekt, wie allen Erwachsenen!"

Im Unterrichtsfach "Soziale Handlungsfelder" bereitet die studierte Psychologin die Schülerinnen und Schüler der 2a-Klasse auf ihr Praktikum im Pflege-bzw. Behindertenbereich vor. Hinter den Schulbänken stehen neben einem Rollstuhl ein Modell-Skelett und ein Pflegebett zu Übungszwecken. Praxis wird hier groß geschrieben. Den Jugendlichen soll neben dem Fachwissen auch die im Joballtag so dringend nötige soziale und emotionale Kompetenz mitgegeben werden.

Job-Interesse von Österreicherinnen

In der Fachschule für Sozialberufe (FSB) in Stockerau steigt die Anzahl der Schülerinnen und Schüler seit Jahren -ein Trend, der sich auch schon in den Anmeldungen für das nächste Schuljahr fortsetzt, wie Direktorin Andrea Pichler erklärt. Sie leitet die katholische Privatschule gegenüber dem Kloster St. Koloman, die heuer 50-jähriges Jubiläum feiert. "Es hat sich herumgesprochen, dass der Pflegebereich ein Berufsfeld mit Zukunft ist", so Pichler. Insbesondere Pflegeanbieter aus Wien und Niederösterreich berichten inzwischen von einem erhöhten Job-Interesse seitens der Österreicherinnen. Dieser Trend ist in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit plausibel, obendrein gelangt der Pflegebereich durch ältere Angehörige, die Pflege benötigen, immer mehr Menschen ins Bewusstsein.

Auch die Pflegeausbildung erlebt derzeit einen rasanten Wandel. Bis 2024 soll stufenweise ein neues System umgesetzt sein: Die Pflegeassistenz als erste Stufe, die Pflegefachassistenz als zweite Stufe und der gehobenen Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege, der künftig nur mehr an Fachhochschulen erworben werden soll. Die FSB Stockerau ist eine solche Schule, die auf die Ausbildung für den gehobenen Dienst im Gesundheits-und Krankenpflegebereich vorbereitet. Die dreijährige mittlere Schule für 14-bis 17-Jährige schließen die Jugendlichen mit der Lehrabschlussprüfung ab - der Großteil besucht danach eine Schule für Sozialbetreuungsberufe (SOB). Viele absolvieren eine Ausbildung für Pflegeassistenz und bleiben auch im Pflegebereich. "Oft braucht es aber einige Jobs, bis sich der passende findet, oder auch weitere Schulungen", berichtet Direktorin Pichler. "Die Rückmeldungen unserer Absolventinnen und Absolventen zeigen, dass die Pflege eine sehr fordernde Arbeit ist."

Derzeit wird noch der Löwenanteil der Pflegearbeit von rund 80.000 hierzulande gemeldeten Pflegekräften aus Osteuropa (43 Prozent Slowakinnen, 40 Prozent Rumäninnen) erledigt, die Frauen-Quote liegt bei 96 Prozent. Der Anteil der Österreicherinnen beträgt dabei erst rund 1,7 Prozent. Doch allein durch Arbeitskräfte aus dem Ausland wird die steigende Nachfrage angesichts der demographischen Entwicklung künftig nicht gedeckt werden können. Das Lohnniveau in der Slowakei gleicht sich langsam dem österreichischen an, obendrein ist das familienfeindliche "Pendeln" ins Nachbarland für jeweils zwei Wochen für die betroffenen Frauen schwierig, und auch andere Nachbarländer sind interessiert an den billigen Arbeitskräften aus dem Osten.

Auch wenn die Bezahlung für Inländerinnen vergleichsweise niedrig ist: Ein Vorteil der Pflegebranche sei die flexible und familienfreundliche Zeiteinteilung für das ortsansässige Personal: "Gerade für junge Mütter ist es praktisch, wenn Sie etwa einen Samstags-Dienst machen können, während der Vater auf die Kinder aufpassen kann", betont Pädagogin Karin Fürst.

Sozial orientiert und erstaunlich reif

Wichtig ist ihr vor allem, dass ihre Schützlinge reflektiert an ihre verantwortungsvolle Aufgabe herangehen. Sie will ihnen bewusst machen: Begebe ich mich mit meinem Verhalten vielleicht gerade in die Täter-, Opfer-oder Retter-Rolle? Wie reagiere ich auf auftretende Irritationen? Wo setze ich meine Grenzen?"Zur Burn-out-Prävention machen sie Achtsamkeits-und Atemübungen, Meditationen und auch Muskelentspannungen."

Die Jugendlichen, die die FSB wählen, seien jedoch zum Großteil genau jene Typen, die im anstrengenden Pflegebereich sehr gut aufgehoben sind, betont Direktorin Pichler. "Ich bin oft voller Bewunderung, wie empathisch sie mit alten Menschen, Kindern oder Menschen mit Behinderung umgehen können -unsere Burschen genauso."

Auch wenn im Unterricht heikle Themen wie Körperlichkeit und Sexualität anstehen, kichern die pubertierenden Jugendlichen überraschenderweise kaum. "Ich musste schmunzeln, wie sich eine Gruppe unlängst in der Pause auf total aufgeklärte und reife Weise über das Thema 'Sexualität im Alter' unterhalten hat", erzählt Pichler. Ein Schüler hat sogar seine Oma mitgebracht, die im Unterricht darüber referiert hat. Dominic Ammerstorfer ist einer der 20 Burschen an der kleinen Schule mit insgesamt 140 Jugendlichen. Seit der Hauptschule weiß er, dass er mit seiner Arbeit Menschen helfen möchte und die Pflege sein Traumberuf ist. "Diese Schule bietet mir einfach den besten Einstieg in mein Berufsleben", erklärt der 16-Jährige. Für ihn zählt vor allem, dass sich die Patienten gut aufgehoben fühlen. "Mir persönlich ist es wichtig, immer höflich zu bleiben, auch wenn die Zeit knapp ist, und mir trotzdem Zeit für Patientengespräche zu nehmen." Dass der Patient "als Mensch untergeht", sollte laut seinen Vorstellungen nicht passieren.

Was eine gute Pflegekraft sonst noch ausmacht? "Die sollte flexibel, spontan, geduldigundteamfähigsein", meintKerstinRieder aus der 3a-Klasse. Sie erwartet sich von der Pflege einen kommunikativen, abwechslungsreichen Joballtag. Herausforderungen erkennt sie in möglichen Konflikten mit den pflegebedürftigen Menschen. "Es könnte auch eine schwere Belastung sein, wenn jemand stirbt", wirft sie ein.

Emotionale Belastung

Schon während der Ausbildung werden die jungen Leute in der Kinderbetreuung, im Alten-oder Behindertenheim mit vielen Herausforderungen, körperlichen Einschränkungen und dem Tod konfrontiert. Die gesammelten Erfahrungen werden mit den Fächern "Reflexion und Dokumentation" sowie "Persönlichkeitsbildung" begleitet. "Manchmal kommen Emotionen hoch und es gibt Tränen, wenn belastende Themen wie Familienprobleme oder Sterbebegleitung anstehen. Da stellen sie natürlich persönliche Bezüge her", erklärt Pichler, "und das soll dann auch verarbeitet werden".

Manche der Jugendlichen leben gemeinsam mit den Großeltern, die pflegebedürftig sind, helfen bereits bei der Pflege mit und sind so auf ihren Berufswunsch gekommen. Neben der gemeinsamen Reflexion existenzieller Themen ist den Jugendlichen ein Jugendcoach von der Caritas zur Seite gestellt, um sie bei Lernproblemen, aber auch bei der Lehrstellensuche bis zu einem halben Jahr lang zu coachen und zu beraten. So soll die Drop-out-Rate von derzeit etwa fünf Prozent möglichst niedrig gehalten werden. Wegen ihrer Jobchancen müssen sich die Absolventinnen und Absolventen der FSB Stockerau jedenfalls keine Sorgen machen. Die Herausforderungen für die künftigen Pflegerinnen und Pfleger werden andere sein.

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