LERNEN als unendliche Geschichte

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Lebenslang lernen ist längst unverzichtbar geworden - in der Arbeitswelt ebenso wie im Umgang mit anderen Kulturen. Eine Annäherung.

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Lebenslang lernen ist längst unverzichtbar geworden - in der Arbeitswelt ebenso wie im Umgang mit anderen Kulturen. Eine Annäherung.

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Es ist ein heißer Herbst, der unsere Gesellschaft mit drängenden Fragen konfrontiert: Was bedeutet Solidarität? Darf Nächstenliebe Grenzen haben? Und: Was kann ich tun? Viele Menschen reflektieren nicht nur darüber, sie packen mit an und lernen dabei nicht nur viel über die Welt, sondern auch über sich selbst. Zahllose Freiwillige haben dieses "informelle Lernen" oder Erfahrungslernen in den letzten Tagen und Wochen bei ihrem Engagement für Flüchtlinge durchlaufen -und tun es hoffentlich auch weiterhin. Andere wiederum nutzen den Herbst, um sich in Kursen oder Seminaren zielgerichtet weiterzubilden: sei es in einer neuen Sprache, den Eigenheiten des Computers oder dem, was "Lebensqualität im Alter"(LIMA) bedeutet.

Um welche Form von Lernen es sich auch handeln mag: Dass es angesichts einer sich im Umbruch befindlichen Gesellschaft und Wirtschaft "lebenslanges Lernen" braucht, ist unbestritten. Zumal in der Arbeitswelt erfordert die Verkürzung der Halbwertszeit des Wissens, also der Umstand, dass einmal erworbene Kenntnisse rasch veralten, ständiges Dazulernen. Bedingt durch technologische Innovationen und Auslagerungen hat der Anteil niedrig qualifizierter Tätigkeiten am Arbeitsmarkt stark abgenommen, während der Anteil höher qualifizierter Tätigkeiten gewachsen ist. In vielen Berufen sind die Anforderungen heute ungleich höher als noch vor einer Generation.

"Bildungsvererbung" als Problem

Insgesamt ist in den letzten Jahrzehnten das Bildungsniveau der Bevölkerung gestiegen -festzustellen etwa am wachsenden Anteil an Akademikerinnen und Akademikern. Allerdings ist die "Bildungsvererbung" in Österreich besonders signifikant: Welche Ausbildung Kinder erhalten, hängt stark von der sozialen Herkunft ihrer Eltern ab. Diese Unausgewogenheit wird bis dato nach der Erstausbildung ("formales Lernen") kaum durch Weiterbildung ("non-formales Lernen") kompensiert - ganz im Gegenteil: Je höher die Erstausbildung, desto höher auch die Beteiligung an Weiterbildung. Um diesen "Matthäuseffekt" zu mildern, wäre die gezielte Förderung von Bildungsfernen nötig, denn wer gering qualifiziert ist, ist auch erheblich stärker von Arbeitslosigkeit bedroht. Gleichzeitig zeigt die Entwicklung hin zur "Generation Praktikum", dass selbst eine akademische Ausbildung keine Garantie mehr für ein nachhaltiges Beschäftigungsverhältnis darstellt.

17 Prozent mit Leseproblemen

Was die Lernbereitschaft betrifft, so steht Österreich im internationalen Vergleich derzeit nicht schlecht da: Immerhin 45 Prozent der 25-bis 64-Jährigen haben zuletzt innerhalb eines Jahres Weiterbildungsangebote in Anspruch genommen, das sind fünf Prozent mehr als noch fünf Jahre zuvor. Wobei die besondere Stärke der Erwachsenenbildung in Österreich in ihrer Vielfalt an Einrichtungen und Angeboten besteht, die zu einem guten Teil von gemeinnützigen Veranstaltern betrieben werden. Allein die katholische Erwachsenenbildung bietet jährlich mehr als 30.000 Kurse, Seminare und Einzelveranstaltungen an und verzeichnet rund 800.000 Teilnahmen (vgl. www.forumkeb.at). Zugleich aber hat erst kürzlich die internationale "PIAAC-Studie", ein PISA-Test für Erwachsene, für Unmut gesorgt: Immerhin 17 Prozent der Bevölkerung haben demnach Probleme, sinnerfassend zu lesen.

Im Gegensatz zum schulischen und universitären Bereich erklärt die öffentliche Hand Weiter-und Erwachsenenbildung freilich zu einem Gutteil zur Privatsache: Laut einer Untersuchung des Instituts für Höhere Studien (IHS) kommen 30 Prozent der Gelder von Betrieben und 20 Prozent von Privatpersonen, 38 Prozent der Mittel stammen vom AMS und lediglich zwölf Prozent direkt von der öffentlichen Hand. Insgesamt machen die staatlichen Ausgaben für Weiterbildung nur 2,5 Prozent der öffentlichen Gesamtausgaben für Bildung (einschließlich Schulen und Unis) aus. Und das angesichts großer, bildungspolitischer Herausforderungen:

Die rasch gestiegene Zahl an Migrantinnen und Migranten in Österreich erfordert gezielte Maßnahmen zur Integration der Zugezogenen, Deutschkurse stellen dabei die erste Grundlage dar. Lernen können beim Thema Integration aber nicht nur die Zuzügler: Gerade in ländlichen Gemeinden haben Angebote der Erwachsenenbildung im sozialen oder kulturellen Bereich, die Alteingesessene und Zuwanderer zusammenführen, viel zum wechselseitigen Verständnis beigetragen. Beim "interkulturellen Kochen" beispielsweise lernt man die fremde Kultur über den Gaumen kennen.

Durch den demografischen Wandel wird sich der Anteil Älterer sprunghaft erhöhen, die geburtenstarken Jahrgänge treten ins Pensionsalter über. Durch zielgruppengerechte Angebote werden Menschen bis ins hohe Alter mobilisiert und befähigt, verstärkt am sozialen Leben teilzuhaben. "Aktiv Altern" lautet das Stichwort. Gerade für körperlich weniger mobile Menschen bietet das Internet gute Möglichkeiten zur Kommunikation und Interaktion. Wobei die Zielgruppe der Älteren aber auch ein Beispiel dafür ist, dass lebenslanges Lernen kein Allheilmittel sein kann: So finden viele ältere Arbeitssuchende oftmals trotz guter Qualifikationen keinen Job.

Die Durchflutung aller Lebensbereiche mit digitalen Medien erfordert entsprechende Kompetenzen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). Arbeitswelt, Shopping, Gesundheit, Behördenwege - kaum ein Lebensbereich, den wir nicht über Laptops und Smartphones mitgestalten.

Nicht zuletzt geht es insgesamt immer weniger um punktuelles Wissen, sondern um die Fähigkeit zu handeln und auf andere Menschen einzugehen. Der Strukturwandel hat zu einer hochgradigen Verschiebung der Arbeitsmärkte in den Dienstleistungsbereich geführt. Dieser erfordert aber andere Kompetenzen als im Industriezeitalter. Die EU definiert acht Schlüsselkompetenzen: Neben Sozial-und Persönlichkeitskompetenzen ist vor allem die unternehmerische Kompetenz in einer hochgradig individualisierten Gesellschaft gefragt.

Bildung als Weg zur Mündigkeit

All das macht lebenslanges Lernen unverzichtbar. Zugleich trägt Weiterbildung aber auch jenseits des Berufes zu einer Steigerung der Lebensqualität bei -etwa wenn es um Bereiche wie Gesundheit, kulturelle Bildung, Beziehungsleben oder Spiritualität geht. Hier kommt das klassische Humboldt'sche Bildungsideal zum Tragen, das Bildung als Weg zur Mündigkeit des Menschen auffasst. Auch die Vision einer Bürgergesellschaft erfordert Individuen, die ihr Gemeinwesen mitgestalten wollen und dazu über das nötige Rüstzeug verfügen.

Im Bewusstsein all dessen hat die Bundesregierung 2011 eine umfassende Strategie zum "lebensbegleitenden Lernen" in Österreich beschlossen (vgl. Seite 5). Vorerst nahm man in den Bereichen Alphabetisierung, Nachholen von Bildungsabschlüssen und Bildungsberatung Geld in die Hand. Ob das ausreicht, um die ambitionierten Ziele bis 2020 umzusetzen, bleibt abzuwarten.

Einstweilen gibt es jedenfalls genügend Gründe, dazuzulernen -auch und gerade in der aktuellen Flüchtlingskrise. Für all jene, die ihr Engagement professionalisieren wollen, bietet etwa das Innsbrucker "Haus der Begegnung" ab 30. Oktober einen neuen Lehrgang an, dessen Konzept man zur Nachahmung gerne teilt (vgl. hdb.kurse@dibk.at). So wichtig Erfahrungslernen durch die Hilfe von Mensch zu Mensch auch ist - mit mehr Wissen und Können im Gepäck fällt dieses Lernen wahrscheinlich noch leichter.

Der Autor ist Geschäftsführer am Österreichischen Institut für Erwachsenenbildung

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