6851437-1976_48_16.jpg
Digital In Arbeit

Sie wollen ein normales Leben führen

Werbung
Werbung
Werbung

Hochbetrieb im Arbeitsamt für Behinderte in der Herbststraße: ein taubstummer Neunzehnjähriger wird von seiner Mutter vorgestellt. Ein Mann mit Krücken hat seine Stelle nach einem Autounfall verloren. Ein junges Mädchen, Zwergwuchs, sucht einen Posten als Buchhalterin.

Vorangegangene Demütigungen, Hoffnung, Angst stehen auf den Gesichtern geschrieben. Manche suchen durch ein besonders forsches Auftreten ihre volle Einsatzfähigkeit zu beweisen. Andere heischen um Mitleid. Manche wirken abweisend und verschlossen. Einzelschicksale, hier in einen Topf geworfen. „Dabei sind das die ,Normalfälle' “, sagt Frau Prohas-ka, Leiterin und guter Geist der Vermittlungsstelle („Ich bin mit Leib und Seele bei der Sache“), „wirklich schwierig wird es bei den Querschnittgelähmten, Rollstuhlfahrern, geistig Behinderten.“

Nur 15 bis 20 Prozent aller Arbeitssuchenden können hier vermittelt werden. Frau Prohaska bezeichnet das als gutes Ergebnis. „Da steckt ungeheuer viel Arbeit drinnen. Wir haben ja sehr wenig Aufträge von den Firmen.“

Das ist die Situation: der Behinderte, ein Makel der Gesellschaft, ein Außenseiter, dem man bestenfalls durch Spenden, Almosen sein Außenseiter-tum bestätigt, dem man es aber nicht gestattet, in den eigenen Reihen einen seinen Fähigkeiten entsprechenden Platz auszufüllen. Darum die Weigerung vieler Firmen, Behinderte anzustellen - trotz Invalideneinstellungsgesetz, das jeden Arbeitgeber, der über 25 Arbeiter beschäftigt, dazu verpflichtet, ansonsten er eine bestimmte Summe an den Staat zu zahlen hat. U.nd trotz der Einführung der „geschützten Werkstätten“, wo der Staat das Defizit, das dem Arbeitgeber durch die Arbeit eines Behinderten möglicherweise entsteht, finanziell ausgleicht. Darum auch die Schaffung von Behindertenghettos, womöglich mit einer Mauer rundherum, die den Bürger vor solch tristem Anblick zu bewahren habe.

Die Behinderten selbst setzen sich gegen diese aus dem 19. Jahrhundert stammenden Ansichten vehement zur Wehr. Sie greifen zur Eigeninitiative, bilden Vereine, Clubs. „Nicht der Behinderte ist zu bedauern, sondern die Gesellschaft, die ihn ablehnt“ heißt es in der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift des „Club Handicap“. Der Spieß wird umgedreht, die Gesellschaft zur Verantwortung gerufen.

„Bei einer Stellensuche wird in erster Linie ein Behinderter vermittelt und erst in zweiter Linie eine Arbeitskraft“, meint Direktor Dr. Reitmeier von der „Höheren Technischen Bundeslehranstalt und Bundeshandelsschule“ in Wien, Österreichs einziger berufsbildenden Schule für jugendliche Behinderte. (Für Erwachsene gibt es eine weitere in Linz und in Graz ist ähnliches im Auf- und Ausbau begriffen). Die Schule, die sich nach 1945 aus einer Ausbildungsstätte für Kriegsinvalide entwickelt hat, besitzt nicht einmal ein eigenes Gebäude. Der Hauptteil samt Direktion und Lehrkörper befindet sich in der Geigergasse, zusammen mit der Versorgungsstelle des Landesinvalidenamtes, der staatlichen Prothesenwerkstätte und dem Forschungsinstitut für Orthopädietechnik. Die technische Abteilung ist in der Castelligasse untergebracht, die Handelsschule in der Phorusgasse. In der Castelligasse gibt es bis heute keinen Aufzug, die Räume wurden seit der Vorkriegszeit nicht verputzt, weshalb jetzt Lehrer und Schüler darangehen wollen, das in Eigenregie zu besorgen („Es ist“, sagt Dr. Reitmeier, „einfach erschütternd. Man geniert sich fast, so etwas herzuzeigen“). Das schuleigene Internat, in dem etwa 30 Rollstuhlfahrer untergebracht sind, besitzt erst seit vergangenem Jahr einen Lift. In der technischen Abteilung mußten wegen Raummangel vier Wanderklassen eingerichtet werde, in der kaufmännischen Abteilung, in der sich viele Rollstuhlfahrer befinden, gibt es ebenfalls eine Wanderklasse. Ein neues Gebäude, seit über zehn Jahren im Gespräch, soll jetzt in Mauer am Georgenberg errichtet werden. Sämtliche Betroffenen empfinden das als reine Internierung. „Dort kann nicht einmal ich mit meinen Krücken raufgehen, nicht im Sommer und schon gar nicht im Winter. Von den Rollstuhlfahrern ganz zu schweigen“ meint die gehbehinderte Sekretärin des Direktors.

Trotz Behinderung dabei sein: Kugelstoßen aus dem Rollstuhl

So sieht es an der Schule für Körperbehinderte aus. Eine Berufsschule für Geistig behinderte gibt es überhaupt nicht. Hier sind die Tabus, ist die Abwehrstellung der Bevölkerung noch viel größer. Dabei wäre es gerade für den Behinderten ungeheuer wichtig, eine entsprechende Ausbildung zu erhalten, um im Konkurrenzkampf mit dem Nicht-Behinderten zu bestehen. I

Die meisten Absolventen der Berufsschule finden eine Stelle durch Eigeninitiative, nur wenige werden durch die Schule selbst oder durch das Arbeitsamt vermittelt. Weshalb Dr. Reitmeier jetzt darangehen möchte, bereits zu Beginn des Schuljahres die künftigen Absolventen dem Arbeitsamt vorzustellen. Die Aversion vieler Firmen, einen Behinderten anzustellen, hat verschiedene Ursachen. Meist ist es die Furcht vor einem Leistungsabfall, häufig will man auch den Anblick behinderter Menschen vermeiden, weil der dadurch erzeugte Schock, das gewisse ungute Gefühl in der Magengrube, dem Betriebsklima (so vermutet man) abträglich sei. Eine Sekretärin mit Krücken im Vorzimmer des Chefs macht sich nicht so gut! Vielfach auch sind es ganz einfach architektonische Barrieren: Stiegen, zu enge Türen, schmale Gänge, die ein Hindernis darstellen.

Natürlich gibt es auch Firmen, die Behinderte einstellen, wie eine Lederwarenfabrik im fünften Wiener Gemeindebezirk, die unter 286 Arbeitern derzeit 9 Behinderte beschäftigt. Nach der Arbeitsmoral dieser Behinderten befragt, meinte der Personalleiter, daß sie oft besser sei als die der Nicht-Behinderten. Man müsse sie eben dort einsetzen, wo ihre Fähigkeiten zum Tragen kämen. Also nicht gerade im Akkord etwa. Dieses positive Bild einer humanen Gesinnung weiß sein Chef allerdings sogleich mit einem „Ich persönlich bin nicht sehr glücklich mit Körperbehinderten, weil sie eine geringere Leistung erbringen“ zu zerstören. Seine Aversion, so ist weiter zu vernehmen, gründet sich auf schlechte Erfahrungen, die er einmal mit einer Behinderten gemacht hat. „Und darin“, sagt Frau Prohaska von der Herbststraße, „liegt die große Gefahr. Wenn eine Firma einmal Pech gehabt hat mit einem Behinderten, ist sie für uns verloren.“ Ihrer Ansicht nach hängt ein negatives Verhalten allerdings nicht mit der Behinderung, sondern mit dem Charakter des Betreffenden zusammen. „So wie es auch unter Nicht-Behinderten gute und schlechte Arbeiter gibt.“

Die berufliche Integration des Behinderten hat aber nicht nur einen menschlichen, sie hat auch einen wirtschaftlichen Aspekt. Wenn die Gelder, die für Anstalten, Heime, Zuschüsse aufgebracht werden müssen, in eine sinnvolle Berufsausbildung der Behinderten investiert würden, so könnte dies nicht nur das Selbstwertgefühl des Behinderten stärken, das Gefühl, einen Platz auszufüllen und niemandem zur Last zu fallen, sondern auch dem Staat - und damit dem Steuerzahler - ein finanzielles Plus einbringen. Denn mit der geringsten Arbeit, die ein Behinderter zu leisten imstande wäre, könnten große Summen eingespart werdend

Behinderte - und das ist ein wesentlicher Punkt- wollen als vollwertig betrachtet werden. Darum auch halten die Wenigsten etwas von dem speziellen Kündigungsschutz. „Ich möchte in meiner Leistung einem Nicht-Behinderten gleichgestellt werden“ sagt Frau B., Rollstuhlfahrerin, die als Sekretärin arbeitet. Natürlich: auf dem Gebiet, auf dem sie einsatzfähig ist. Ein „normales Leben“ führen mit allem, was dazugehört - darauf erheben Behinderte Anspruch. Also heiraten, Kinder haben, einen Beruf ausüben, Urlaub machen, Geselligkeit pflegen, am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Aber der Mechanismus, der bereits beim behinderten Kleinkind einsetzt, führt automatisch in die Isolation: Behindertenkindergarten, Behindertenschule, Behindertenberufsschule und schließlich, gezeichnet durch das Bewußtsein, nicht dazuzugehören, das Gefühl der Minderwertigkeit, des Außenseitertums. Daß es nicht so sein müßte, zeigen die Beispiele, bei denen Behinderung durch den Krieg oder durch Unfall entsteht: in diesen Fällen ist der Betroffene meist schon integriert, hat eine eigene Familie, einen Aufgaben- und einen Bekanntenkreis. Er wird an seiner Behinderung nicht so schwer zu tragen haben wie jener, der von Geburt an geschädigt ist.

Frau B., die mit einem ebenfalls Körperbehinderten verheiratet ist, zeigt mir ihre Küche, die nach eigenen Entwürfen ausgeführt wurde: eine Nische, die direkt an das Wohnzimmer anschließt, ohne Türe und ohne Stufe. Sämtliche Gegenstände sind so angebracht, daß sie sitzend zu erreichen sind. Haltegriffe ermöglichen es ihr, sich bei Bedarf hochzuziehen. Frau B. ist sehr stolz auf diese Errungenschaft. „Und dabei hat mir mein Lehrer von der Berufsschule einmal gesagt: Sie müssen schon zuschaun und fleißig sein, damit sie einmal was verdienen. Denn einen Mann finden und einen Haushalt führen, werden sie wahrscheinlich nie.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung