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Digital In Arbeit

Die „geschenkten Jahre”

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Die Tatsache, daß das menschliche Leben in den kulturell entwickelten Gebieten der Erde seit der Jahrhundertwende um 20 bis 25 Jahre zugenommen hat und weiterhin ansteigt, ist in unseren Gegenden erst vor wenigen Jahren entdeckt worden und hat uns ganz unvorbereitet getroffen: unvorbereitet, dem Zuwachs an älteren Menschen Wohnstätten, Betreuung, Arbeitsmöglichkeit, Geselligkeit, Anschluß an die Gemeinschaft zu bieten. So steht denn ein großer Teil der älteren Menschen ratlos dem Geschenk des verlängerten Lebens gegenüber.

Aus dieser Erkenntnis heraus hat vor fünf Jahren eine Arbeitsgemeinschaft sozial arbeitender Frauen die Beratung für alternde Menschen geschaffen .. Viele Anliegen führen Menschen in die Beratung: Rentenanliegen, Familienfragen, Heimstättenbedarf, die Suche nach Betreuung, Vereinsamung, vor allem aber die Suche nach irgendeiner Arbeit, die ihr Leben wieder ausfüllen könnte. Obwohl den meisten ein Arbeitseinkommen dringend notwendig ist, wird nahezu niemals die materielle Not in den Vorder-

grund gerückt, sondern viel eher der Verlust des Lebenssinns, der durch den Verlust der Arbeit und oft — bei Frauen — der Familie entstanden ist. Was sie suchen, ist neue Sinngebung des Lebens durch sinnvolle Arbeit. Aber ihre nach Arbeit ausgestreckten Hände greifen ins Leere. Niemand füllt sie, niemand faßt sie. Trotz höchstgesteigerter Konjunktur und Mangel an Arbeitskräften werden sie als „zu alt” nicht in den Arbeitsprozeß einbezogen. Sie stehen jenseits der unsichtbaren Schranke, die da heißt: Altersgrenze. Und während das menschliche Leben an Jahren und Vitalität zunimmt, verschiebt sich die Altersgrenze nach unten. Aus den „besten” Jahren um fünfzig wurden vierzig, fünfunddreißig, neunundzwanzig. Und im Inseratenteil der Zeitungen werden mit Vorliebe Angestellte „unter fünfundzwanzig” gesucht. Hier mag zum Teil das Bestreben mitspielen, durch junge Angestellte an Lohn zu sparen; im Ganzen wirkt sich hier die Diskriminierung des älteren Menschen in der Zeit des zweiten Weltkrieges aus, die wie manche andere Fehlhaltung das unheilvolle System überlebt hat.

Und so steht heute einer Verrückung der Lebensgrenze nach oben eine Verschiebung der Altersgrenze nach unten gegenüber. Wem das Unheil widerfährt, mit 35, 40, 45 Jahren durch irgendein Ereignis seinen Arbeitsplatz zu verlieren, der kommt schwer wieder unter, vor allem Frauen, die zwei Drittel der älteren Arbeitslosen ausmachen. Das bedeutet für zahllose Menschen schwerste seelische Not: denn Arbeit bedeutet nicht bloß Erwerb und Lebensunterhalt, sondern Lebensinhalt und Achtung der Mitwelt. In einer langen Arbeitslosigkeit erleidet der Betroffene körperlichen und seelischen Schaden.

Dabei handelt es sich hier nicht um ein unabwendbares Unheil, sondern nur um eine notwendige Neueinstellung zu einer neuen Lebenssituation. Wir haben in der erfolgreichen Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ein Vorbild. Als in der Zeit der tiefsten wirtschaftlichen Depression zwischen beiden Weltkriegen unsere lugend arbeitslos auf der Straße stand, da schufen die katholischen und sozialistischen Jugendverbände im Verein mit der Arbeiterkammer, der Referentin für Frauenbildung im Unterrichtsministerium und Vertreter der Lehrerschaft die Hilfswerke „Jugend in Not” und „Jugend am Werk”. Durch diese Hilfsaktion wurde die Jugendarbeitslosigkeit zu einem Anliegen des ganzen Volkes und dadurch auch der leitenden Stellen. Das Jugendeinstellungsgesetz hat verhältnismäßig rasch Abhilfe geschaffen. Wer diesen Uebergang miterlebte, der sieht auch in der willkürlich gezogenen Altersgrenze kein unüberwindbares Hindernis für die Einstellung 1 älterer Jahrgänge. Auch hier gilt es, diese Not- : Wendigkeit zur Sache des ganzen Volkes zu machen, das als ganzes durch die Altersarbeits- 1 losigkeit bedroht ist.

Mannigfache Wege müssen hier gegangen werden. Die Erwachsenenbildung muß mit einer großzügigen Aufklärungsarbeit über die Lebens- ‘ Situation des alternden Menschen einsetzen. Amerika hat seit langem eine Lebenskunde des Alterns in seine Erwachsenenbildung eingebaut. Das State Department in Washington gibt eine eigene Zeitschrift, „Aging”, heraus. Die Altersarbeit spielt iri’Jdieseht Informationsdienst eine ‘ bedeutende’fe leV Wir werdeiriäter’aulfl eigene Wege gehen müssen. Mit Hilfe der produktiven Arbeitslosenfürsörge könnten Werkstätten geschaffen werden, in denen Lücken der österreichischen ! Produktion ausgefüllt werden (zum Beispiel auf dem Spielwarensektor); hier könnten dann vorwiegend ältere Leute beschäftigt werden.

Großzügige Aufklärungsarbeit würde manche Vorurteile beseitigen. Die älteren Jahrgänge stellen ein Reservoir von Reife und Lebenserfahrung dar, aus dem jeder Betrieb Nutzen ziehen kann. Bei steigendem Lebensalter ist aber auch die Gemeinschaft daran interessiert, die „älteren” Jahrgänge dafür einzusetzen, wofür sie sich eignen: zu Arbeiten, die menschliche Erfahrung verlangen. Die heutige Arbeitsorganisation wird dieser Notwendigkeit angepaßt werden müssen. Vor allem die Sozialarbeit wird mit Hilfe dieser Kräfte ausgebaut werden können.

Bisher war nur von der Altersarbeitslosigkeit voll einsatzfähiger Kräfte die Rede, die noch nicht die Renten- oder Pensionsberechtigung erlangt haben. Dazu kommt aber ein Heer von Arbeitsuchenden, die arbeiten wollen, um etwas dazuzuverdienen und auch, um eine Arbeit zu haben. Darunter sind viele, die nur „leichte” Arbeit leisten können.

Hier wird es notwendig sein, geschlossene Werkstätten für Körperbehinderte zu schaffen und sie in Kursen dafür umzuschulen. Für ältere,, noch rüstige Frauen ließen sich konkurrenzfreie Altersberufe, wie Altersbetreuerin und Familienpflegerin (an Stelle der fehlenden Mutter), schaffen. Hier ist der menschlichen Tatkraft und Initiative noch weiter Spielraum geboten.

Wenn die zu Unrecht fortlebende Diskriminierung von dem alternden Menschen genommen wird, dann werden auch die „geschenkten Jahre” ihren tieferen Sinn für das persönliche Leben des einzelnen erhalten. In Raimunds „Bauer als Millionär” folgt auf den Abschied der Jugend gleich das „Alter aus Eisgrub” mit allen Altersleiden. Der jetzige Lebensrhythmus verläuft anders. An das Vollalter des Menschen schließen sich zwei Jahrzehnte an, in denen er die Welt ruhiger, aber vielleicht darum freudiger erlebt und in denen er der Gemeinschaft wertvollste Dienste zu leisten vermag — ohne Altergrenze.

In den Räumen des Seminars für kirchliche Frauenberufe, Wien I, Seitzergasse 3. Sprechstunden jeden Freitag von 16 bis 18 Uhr.

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