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Hast Du es besser?

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Mein lieber Christoph, ich suche mir vorzustellen, was Du jetzt gerade tust, in Südfrankreich: lesen, Spazierengehen, kochen, im Bistro sitzen, surfen — das übliche also. Vor allem aber werdet Ihr Rückschau halten, Du und Deine Freunde vom „Inneren Zirkel", Rückschau auf die gemeinsam verbrachten Schuljahre, bestimmt durch den berühmten „Streß" (der sich in den Augen Deiner Eltern freilich in Grenzen hielt), Rückschau auf Versetzungsnöte (ich vor zwei Jahren: jeden Morgen um neun auf den Zusteller gewartet, . die Post durchmustert: dem Himmel sei Dank, auch heute kein bläuer Brief dabei), Rückschau auf eine sehr lange Zeit, in der Ihr Euch unregelmäßige Verben, Bauelemente des Expressionismus und specialissima auf dem Gebiet der Photosynthese eingepaukt, aber die Kunst des höheren Lernens, des Kombinierens und der Zusammenschau allzu selten studiert habt.

Nicht durch Eure Schuld: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, Du weißt schon, wen ich da meine, seid Ihr in die Schule von Fachvertretern, nicht aber von Pädagogen gegangen, die im Sinne der Goetheschen Wander jähre von sich hätten sagen können: „Wer andere lehren will, kann wohl oft das Beste verschweigen, was er weiß, aber er darf nicht halbwissend sein."

Vergleiche ich meine mit Deinen Lehrern, dann muß ich sagen: Unsere waren besser. Nicht klüger, aber besessener; nicht belesener, aber von der Uberzeugung geleitet, daß ihr Tun vergeblich sei, wenn die ihnen Anvertrauten das vernünftige Lernen nicht lernten.

Gewiß, da gab es Käuze unter den Vertretern „des Lehrkörpers unserer Anstalt", wie es damals hieß; Spitzwegfiguren waren dabei, auch mancher weltfremde Gelehrte, der die Minuten zählte, bis er nachmittags im Philologischen Seminar endlich das Eigene tun konnte, „Schräge Vögel", ja, die gab's — aber gerade sie hatten Spaß an ihrer Disziplin, arbeiteten auch in den Ferien und vermittelten uns am ersten Schultag nach der großen Sommerpause das Gefühl: Eigentlich ist es gut, daß es jetzt wieder losgeht.

Und dagegen nun Eure Lehrer, nicht alle natürlich, aber sehr viele: Der vollbepackte Caravan — Du hast es mir oft erzählt: eher mit Ekel als mit Bewunderung -am letzten Schultag vor dem Portal, die Lehrersfamilie im Fond ungeduldig versammelt - und dann ab nach Spanien, Jugoslawien, Griechenland! Ich fürchte, da ist viel verlorengegangen; in der Schule, aber auch in der Universität — verloren durch das langsame Aussterben der Originale, die in den Ferien ihren Pau-sanias lasen und dadurch Griechenland genauer kennenlernten als die alerten Camper von heute.

Gewiß, das klingt ein wenig alt-vorderlich — und ungerecht ist es auch: Denn Was immer man gegen Eure Lehrer einwenden mag, eins, auf jeden Fall, haben sie meinen alten Magistern voraus — daß sie weltläufig, sprachkundig, ohne Scheuklappen sind. Und trotzdem, Christoph: Es ist schon ein Unterschied, ob Du Lehrer vor Dir hast, die besessen von ihrem Beruf sind, ja, ihn für den königlichsten unter allen halten, oder ob da eher verdrossen wirkende Gestalten am Werk sind, die Schulstunden mit Abwesenheit von Freizeit identifizieren. Ach, daß es so wenige gibt, in Gymnasium oder Universität, die Schülern und Studenten den Eindruck vermitteln: Lesen, Denken, Schreiben — das ist Leben für diesen Mann; nimm ihm den Bleistift oder die Bücher, und er ist erledigt, weil er ganz auf das eine, ihm allein Wichtige konzentriert ist!

Ob Du es glaubst oder nicht — es gab Lehrer zu meiner Zeit, die Hannibals Alpenübergang oder Alexanders Expeditionen in einer Weise darstellten, spannend, begeistert und erzgescheit, daß die Schüler sich weigerten, nach Hause zu gehen — und das nach der sechsten Stunde! Und es gab Universitätsprofessoren — Martin Heidegger in Freiburg war einer von ihnen —, die ihr Pensum wie Zauberkünstler darboten: Jonglieren mit Gedanken; Schwenken von Formeln, Stichworten, Paragraphen; Ausbreiten verwirrender Materialien; Vorführung von Trugschlüssen mit nachfolgender Entlarvung. Unmöglich, daß während der Darbietungen ein einziger Student zu spät gekommen oder zu früh gegangen wäre — unmöglich, daß es unter den tausend Hörern, die vor vielen Jahren im Hörsaal 1 der Freiburger Universität versammelt waren, nicht wenigstens ein Viertel gab, denen der Atem stockte, wenn Martin Heidegger über das Nichts dozierte, das derjenige notwendig verfehle, der da fragte: „Was ist es, das Nichts?" Wo es doch - so der Zauberkünstler am Katheder — zum Wesen des Nichts gehöre, daß es eben nicht „sei"!

Ich war wie berauscht damals, als junges Semester: gerade so alt, wie Du jetzt bist; von Vorlesung zu Vorlesung ging ich, konnte überhaupt nicht genug haben: Existenzphilosophie, griechische Tragödie, Literatur des Nihilismus, das Problem „Täter" im Strafrecht. Neue Welten überall, neue Horizonte, nie gesehene Zonen ! Ich weiß, Dir ist es immer ein wenig peinlich, wenn ich, zumal in Gegenwart Deiner Freunde, so rede — wenn ich die Passion des Lernens darzustellen versuche und Euch davon überzeugen möchte, daß die Lektüre des „Zauberberg" oder des „Idioten" an Intensität den Erfahrungen in der sogenannten Primärwelt nicht nachstehen müsse, daß Lesen gelenkte Produktivität sei, daß einer sich, in Martin Walsers Sinn, „umgrübe" beim Lesen und daß jemand in Deinem Alter (und auch viel später noch) nach der Lektüre, der ersten zumindest, von „Anti-gone" oder „Hamlet" ein anderer als vorher sei.

„Ihr wißt ja", sagst Du dann ein bißchen g'schamig zu Deinen Kombattanten vom Inneren Zirkel, „mein Vater lebt aus zweiter Hand". Leben aus zweiter Hand? Ich sage: aus erster. Kant, alleweil über den Büchern in Königsberg, war weiter im Weltraum als Neil Armstrong; Pascal, eingebunden in einen klösterlichen Bezirk, wo Meditation oberste Pflicht war, ist für mich ein weitergereister Abenteurer und größerer Kenner exzessiver Erfahrungen als Casanova. „Ach, darauf will er hinaus", wirst Du jetzt sagen: Casanova — das ist das Stichwort für ihn, um zu seiner familiären Lieblings-Antithese überzuleiten — hier das puritanische Elternhaus, wo nicht gerade Askese, aber doch Bescheidenheit praktiziert wird, und dort die beiden lebenslustigen, von Freundinnen umschwärmten, mit der Kunst des Leben-und-Lebenlassen samt der dazugehörigen Nonchalance in Gelddingen ausgestatteten Söhne.

Ganz so spartanisch, wie Du bisweilen behauptest, ist Dein Vater denn doch nicht — eher ein geheimer Phäake, der es sich leisten kann, das von ihm für selbstverständlich Gehaltene (bescheidener Komfort, freundliche Landschaft, Plauderrunden) mit „Anspruchslosigkeit" zu identifizieren. Und trotzdem, Christoph, bleibt das Problem: Was für Dich Norm ist, hat für Deine Mutter und mich noch immer den Charakter einer großen, tagtäglich staunend und dankbar empfundenen Ausnahme. Du und Dein Bruder seid in einem Haus groß geworden, wo es die natürlichste Sache der Welt war, zu Ernst Bloch „du" zu sagen, mit Siegfried Lenz über die Kunst des Angelns zu disputieren, sich von Heinrich Boll eine Ente ans Bett bringen zu lassen oder mit Jewtu-schenko die Frage zu erörtern, ob es in der Sowjetunion auch elektrische Spieleisenbahnen gäbe. (Antwort Jewtuschenkos: „Bei uns gibt es sogar richtige Eisenbahnen.") Ja, schön, Du verachtest Prominenz, gehst lieber hinaus zu Deinen Freunden, wenn eine sogenannte Zelebrität im Wohnzimmer sitzt... und trotzdem: Dies gehört zu Deiner Welt, Du kannst umgehen damit.

Und nun Dein Vater, als er so alt war, wie Du jetzt bist! Eher kleinbürgerlichem Hause entstammend (Deine Großmutter: Volksschullehrerin. Dein Großvater: Bankbeamter), schlich ich, schüchtern und gehemmt, eine halbe Stunde lang um die Nobelvilla herum, in der mein Professor wohnte — ein Mann, dessen Name im Brockhaus stand —, wagte kaum zu klingeln, wußte nicht, wie die Blumen abzugeben waren (eingewickelt, ausgewickelt?) und ob das Dienstmädchen (schwarzes

Kleid, weiße Schürze, Häubchen— alles comme il faut) etwa ein Trinkgeld bekäme.

Und dann erst die Dame des Hauses: Wie sie anreden? (Ich entschied mich für „gnädige Frau" - doch eben das war, wie ich später erfuhr, ein Fauxpas: In Hamburg werden die Damen der Gesellschaft, und nicht nur sie, mit ihrem Namen tituliert. Guten Abend, Frau Versmann, Frau Schröder, Frau Amsinck.) Du siehst, auf den ersten Blick hatte ich es schwerer als Du — weit schwerer sogar. Auf den zweiten aber: viel leichter in allen Belangen! Ich konnte staunen, verehren, wo Du, dank natürlicher Vertrautheit, Respekt empfindest, nicht mehr. Und dann die Universität: für mich eine Wunderwelt, in deren Räumen ich am liebsten

Tag und Nacht gearbeitet hätte — für Djich eine Arbeitsstätte wie jede andere auch.

Welch ein Unterschied zwischen uns: Ich, in einer Wohnung groß geworden, wo man sich in der Küche unterm Wasserhahn wusch — Du, herangewachsen in eher großbürgerlichem Ambiente, im Gelehrten- und Schriftsteller-Milieu, gleich weit entfernt von Boheme und 3-Zim-mer-Enge. War ich darum schlechter dran als Du? Waren Deine Mutter und ich bedauernswert, als wir unsere erste Wohnung bezogen — und die bestand aus einem großen Zimmer, einem Erker, wo die Waschkumme stand (die Lappen im Winter eingefroren), und einem „Plumpsklosett mit Handbremse", in Gemeinschaftsbenutzung für sieben Personen? War ich ein armer Teufel, weil ich nur sechs Semester studieren durfte (länger konnte mein Vater mich nicht unterhalten): gezwungen, im Alter von 21 Jahren zu dissertieren? Nein, wir waren keineswegs schlecht dran, damals, wir beide — und so wenig Grund zur romantischen Verklärung der kleinen Verhältnisse besteht, zu Nostalgie und sentimentaler Beschwörung des ärmlichen Gestern vom wohlgeordneten Heute aus (ich wünsche Dir nicht, so zu leben, wie wir gelebt haben, würde es auch selbst nur ungern wiederholen) so nachdrücklich muß ich Dir sagen, wie erleichternd es ist, wenn einer weiß: sechs Semester und keinen Tag länger; darum halte dich ran.

Nicht besser also, sondern, so paradox es klingt, viel schlechter, weil beliebiger, hast Du es, für den es auf ein Semester mehr oder weniger nicht ankommt. Du, Christoph, kannst, alles in allem, tun und lassen, was Du willst, in Grenzen natürlich, doch die sind weit gesteckt und versetzbar.

Courage, Unbeirrbarkeit, Gelassenheit: Diese Dreieinigkeit, mein lieber Christoph, wünsche ich Dir; dazu Befriedigung in einem Beruf, den derjenige immer noch am ehesten findet, der weiß: jemand wird nicht mittelmäßig sein, der einerseits Spaß an Könnerschaft hat und andererseits realisiert, daß eine soziale und humane Gesellschaft nur durch arbeitsame und kreative Meister, aber nicht durch Lehrlinge geschaffen werden kann, denen es um Maximen von Freizeit zu tun ist. Ich wünsche Dir, für morgen und übermorgen, eine Frau vom Schlag Deiner Mutter und einen Beruf mit unentfremdeter Arbeit und siebzig Wochenstunden kreativer Tätigkeit. Be embraced, my dear

Wie immer Dein Alter

Aus dem Buch „An mein Kind. Briefe von Vätern", herausgegeben von Hans Haider, das demnächst im NO Pressehaus, St. Pölten, erscheint.

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