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Der EU-Rock und die 15 Hemden

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Am 20. und 21. November treffen sich die Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Mitgliedstaaten zu einem Sondergipfel in Luxemburg.

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Am 20. und 21. November treffen sich die Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Mitgliedstaaten zu einem Sondergipfel in Luxemburg.

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Es ist eine außergewöhliche Maßnahme zur Lösung eines der Schlüsselprobleme Europas, nämlich der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Vielfach wird jedoch kritisiert, daß sich die hohe Arbeitslosigkeit nicht durch ein zweitägiges Gipfeltreffen lösen ließe. Die Probleme in den einzelnen Ländern (3,8% Arbeitslosigkeit in Luxemburg, 19,8% in Spanien) seien zu unterschiedlich, zu heterogen die jeweiligen Strukturen und Interessen für eine Vergemeinschaftung der Beschäftigungspolitik.

Nach langem Tauziehen haben sich die Regierungen der Mitgliedstaaten beim Gipfel im Juni in Amsterdam dennoch auf die Aufnahme eines Beschäftigungskapitels in den Vertrag von Amsterdam geeinigt und einen Sondergipfel zum Thema Beschäftigungspolitik vereinbart. Mit dem Vertrag von Amsterdam wird die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als „gemeinsames Interesse” beschrieben und ein „hohes Beschäftigungs-niveau” als eines der Hauptziele der Union definiert. Dennoch bleiben (fast) alle sozialpolitischen Kompetenzen weiterhin bei den nationalen Regierungen. Wozu also ein europäischer Reschäftigungsgipfel?

Sozialdumping

Einerseits ist in einem gemeinsamen Markt, in dem die Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit für alle Arbeitnehmer gilt, die Reschäftigungs-politik keine rein innerstaatliche Angelegenheit mehr. Andererseits soll ein negativer Wettbewerb im Sozialbereich („Sozialdumping”) vermieden werden. Auch wenn also die Be-schäftigungspolitik weiter eine Domäne der nationalen Regierungen bleibt, ist vor allem im Interesse der Arbeitnehmer ein gemeinsamer europäischer Ansatz zu begrüßen. Außerdem wird mit der Einführung des Euros eine weitgehend unabhängige europäische Zentralbank geschaffen, die als einzige makroökonomische Zielsetzung die Inflationsbekämpfung hat. Die Aufnahme des Reschäftigungskapitels in den Amsterdamer Vertrag war wohl auch als Gegengewicht zu dieser eindimensionalen Vorgabe geplant, um so der Öffentlichkeit klar zu machen, daß eine stabile gemeinsame Währung kein reiner Selbstzweck ist und daß die Union nicht nur den Interessen des Kapitals dient.

Was kann man aber von einem europäischen Reschäftigungsgipfel erwarten, wenn fast alle sozialpolitischen Kompetenzen bei den jeweiligen Regierungen bleiben? Viel wird davon abhängen, wie der EU-Rat (die Staats- und Regierungschefs) die von der Kommission ausgearbeiteten Unterlagen, insbesondere die Leitlinien zur Reschäftigung, bewerten wird.

Das von der Kommission am 1. Oktober vorgestellte Paket zum Reschäftigungsgipfel besteht aus drei Teilen: dem 1997-Report über Reschäftigung in Europa, dem Joint-Report über Reschäftigung (gemeinsam mit dem Rat) und den Kommissionsvorschlägen für die Reschäftigungsleitlinien. Dieses Paket dient dem Rat als Diskussionsgrundlage.

■ In ihrem 1997-Beschäftigungsre-port kommt die Kommission zum Schluß, daß die Hauptursache für die hohen Arbeitslosenraten in Europa die zu geringe Anzahl an neu geschaffenen Arbeitsplätzen ist. Verglichen mit den USA und Japan hat Europa nicht nur die bei weitem höchste Arbeitslosenrate, sondern auch eine deutlich niedrigere Beschäftigungsra-te (EU: 61%, Japan und USA: 74%). Weiters wird von der Kommission mehr Flexibilität und Mobilität am Arbeitsmarkt verlangt.

■ Der gemeinsame Report (Joint-Report) wird zwar in der Rohfassung von der- Kommission präsentiert, die Endfassung wird aber mit dem Rat verhandelt. Wirklich Rrisantes wird in diesem Report also wohl kaum zu lesen sein. Schwerpunkt soll darin die Darstellung von Reispielen für „best practice” sein, also von besonders effektiven Maßnahmen, die einzelne Staaten zur Rekämpfung ihrer Arbeitslosigkeit getroffen haben. Der „Economist” kritisiert allerdings, daß unter den elf Reispielen von „best practice” kein einziges britisches ist.

■ Die von der Kommission vorgeschlagenen gemeinsamen Reschäfti-gungsrichtlinien werden, nachdem sie vom Rat verabschiedet worden sind, für die Mitgliedstaaten zumin-destens als Politikvorgaben verbindlich sein. Der Rat könnte dann sogar, auf Vorschlag der Kommission, Empfehlungen an einzelne Mitgliedsländer richten und diese zu einer Änderung ihrer Reschäftigungspolitik auffordern. Das ist wohl noch ferne Zukunftsmusik, aber trotzdem bemerkenswert.

Konkrete Ziele

Die Richtlinien konzentrieren sich auf vier Schwerpunkte: die Förderung des Unternehmergeistes, die Verbesserung der Reschäftigungschancen für Arbeitslose und Schulabgänger, die Förderung moderner Organisationsstrukturen in den Unternehmen und die Herstellung von Chancengleichheit für Frauen.

Gleichzeitig sollen quantifizierbare Zielvorgaben beschlossen werden. Insgesamt gesehen soll innerhalb der nächsten fünf Jahre eine Reschäfti-gungsrate von 65% (derzeit knapp über 60%) und eine Arbeitslosenrate von 7% (derzeit 10,6%) erreicht werden. In Anbetracht der insgesamt guten Wirtschaftsdaten Europas sollte dieses Ziel erreicht werden können. Das bedeutet laut Kommissionspräsident Jacques Santer die Schaffung von mindestens zwölf Millionen weiteren Arbeitsplätzen. Santer bezeichnete diese Kommissionspläne vor dem Europäischen Parlament als „ehrgeizig aber durchaus realisierbar”. Um diese allgemeinen Ziel vorgaben zu erreichen, schlägt die Kommission eine Vielzahl von Maßnahmen vor. So soll unter anderem der Anteil von Forschung und. Entwicklung von derzeit durchschnittlich 1,9% auf 2,5% gehoben werden, die Lohnnebenkosten sollten deutlich gesenkt werden, was durch eine gleichzeitig höhere Re-steuerung von Energie ausgeglichen werden könnte, und Risikokapitalmärkte sollten auf- bzw. ausgebaut werden. Weiters sollten „passive staatliche Sozialleistungen” (z. B. Lohnfortzahlung bei Arbeitslosigkeit) durch „aktive” (Finanzierung von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen) ersetzt werden. Konkret soll innerhalb von fünf Jahren die Quote der Arbeitslosen, die Fortbildungen in Anspruch nehmen, von derzeit 10% auf über 25% erhöht werden.

Deregulierungsgipfel?

Auch wenn Jean-Claude Juncker, luxemburgischer Premier und derzeitiger Ratspräsident, verkündet hat, daß er den Reschäftigungs- nicht zu einem

Deregulierungsgipfel verkommen lassen werde, so nehmen die Forderungen nach mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt doch einen zentralen Platz in den Kommissionsvorschlägen ein. Obwohl die Kommission immer wieder die volle Einbindung der Sozialpartner fordert, ist es schwer vorstellbar, wie dies in der Praxis funktionieren soll, denn viele Vorschläge bezüglich der Flexibilisierung !des Arbeitsmarktes und der Arbeitsorganisation stehen den Positionen der Gewerkschaften (noch) diametral entgegen.

Allerdings sprechen die Zahlen der Schaffung neuer Arbeitsplätze eine klare Sprache: Der Nettozuwachs an Arbeitsplätzen in Europa innerhalb der letzten fünf Jahre läßt sich alleine auf die Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen zurückführen. Soll also das ehrgeizige Ziel, innerhalb der nächsten fünf Jahre 12 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, erreicht werden, so müssen Hindernisse bei der Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen vermindert werden. Die Kommission betont allerdings auch, daß auch bei Teilzeitarbeit ein adäquater sozialer Schutz gewährleistet sein müsse.

Ab 1998 sollen schließlich die Mitgliedsländer über die Verwirklichung der Leitlinien in ihren Ländern berichten und die Ergebnisse ihrer Maßnahmen der Kommission und dem Rat zur Prüfung vorlegen.

Voneinander lernen („best practice”), Vereinbarungen, die gegenseitiges Sozialdumping verhindern sollen und ein gemeinsames Vorgehen bei der Energiebesteuerung zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen sind sicher vernünftige und realisierbare Ansätze. Andere Vorschläge jedoch, wie jener, passive Sozialleistungen durch aktive zu ersetzen, wird sich so leicht nicht durchsetzen lassen: Die vorgeschlagene Umschichtung zur Förderung von Weiterbildungsmaßnahmen ist de facto eine Forderung nach zusätzlichen öffentlichen Mitteln.

Am 7. Oktober haben sich die Sozialminister der EU-Mitgliedstaaten zu einer vorbereitenden Sitzung in Luxemburg getroffen und die Kommissionsvorschläge insgesamt positiv bewertet. Umstritten bleibt aber nach wie vor die endgültige Festlegung der angestrebten Zielwerte. Wolfgang Streitenberger, der Vertreter der EU-Kommission in Österreich, ist jedenfalls erfreut, daß die Mitgliedsländer den „policy mix” der Kommission so positiv bewertet haben und sieht in der Festlegung auf quantifizierbare Ziele einen entscheidenden Wendepunkt, mit dem auch der Erwartungshaltung vieler europäischer Rürger entsprochen wird.

Im Rundeskanzleramt läuft die Abstimmung der beteiligten Ministerien (Außen-, Finanz-, Sozialministerium) auf eine kohärente österreichische Linie derzeit auf Hochtouren. Die österreichische Regierung erhofft sich vom Reschäftigungsgipfel konkrete Resultate (vor allem bezüglich der Leitlinien) und langfristige Weichenstellungen, vor allem was die Steuerharmonisierung betrifft.

Kurzfristige Erfolge

Inwiefern ein bessere Koordinierung der einzelstaatlichen Maßnahmen aber tatsächlich zu einer Verbesserung auf den trotz Freizügigkeit -immer noch nationalen Arbeitsmärkten führen wird, muß dahingestellt bleiben. Um kurzfristige Erfolge zu verzeichnen, woran vor allem Frankreich und Spanien viel liegt, ist auch daran gedacht, Mittel der europäischen Investitionsbank umzuschichten, und sie für arbeitsplatzschaffende Initiativen zu Verfügung zu stellen. Sobald es jedoch um zusätzliche transnationale Transferzahlungen geht, sind die Länder, die vergleichsweise niedrige Arbeitslosenraten haben oder/und zu den Nettozahlern gehören, mit ihrer europäischen Solidarität am Ende. Auch wenn es aus Sicht der Betroffenen oft nicht danach ausschaut, sind die eigenen Arbeitslosen den nationalen Regierungen noch immer die wichtigsten.

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