Nein! No! Non! Nee! Nie! Nao! …

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70 Prozent der europäischer Bürgerinnen und Bürger wollen über den EU-Reformvertrag abstimmen - doch die Regierungen sagen nein. Damit erweisen sie dem Demokratie-, Friedens- und Wohlstandsprojekt EU einen Bärendienst, meint Christian Felber.

Der EU-Verfassungsvertrag war ursprünglich dazu angelegt, die europäische Identität zu kitten: Fahne, Hymne, EU-Gesetze: "Wir" sind Europäerinnen und Europäer. Der frühere französische Staatspräsident Jacques Chirac ließ in seinem Land siegessicher ein Referendum abhalten, um sich feiern zu lassen, 98 Prozent der französischen Parlamentarier sagten "oui", doch das Volk versagte. Die meisten Medien interpretierten das "Non" in Frankreich zum EU-Verfassungsvertrag als Denkzettel für Chirac oder nationalistisch. Doch es war das bestinformierte Nein in der Geschichte der französischen Demokratie. In zahllosen öffentlichen Diskussionen debattierten bis in den kleinsten Gemeinden Hunderte Interessierte bis Mitternacht die letzten Paragraphen dieses Vertragswerks. Umfragen zufolge waren der neoliberale Kurs der Europäischen Union und der neoliberale Inhalt der Verfassung die Hauptgründe für die Ablehnung. Dann erst kamen Regierungskritik und die Ablehnung des Türkei-Beitritts als Argumente gegen die Verfassung. Kurz darauf folgte das "Nee" in Holland. Und selbst in Luxemburg stimmten 43 Prozent der Bevölkerung mit Nein, nachdem 100 Prozent der Parlamentarier dort Ja zur EU-Verfassung gesagt hatten. "Es gibt eine Kluft zwischen Völkern und Regierenden", formulierte Nicolas Sarkozy treffend.

Alte Verfassung, neues Kleid

Mit dem Reformvertrag wird diese Kluft noch tiefer. Der "Verfassungsschmuck" des EU-Verfassungsvertrags wurde zwar abgelegt, aber dessen Substanz bleibt im Reformvertrag erhalten - nach Außenministerin Ursula Plassnik "zu 95 Prozent". EU-Konventspräsident Giscard d'Estaing nannte den im letzten Dezember in Lissabon von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union abgesegneten EU-Reformvertrag "den gleichen Brief in neuem Umschlag". Ziel der Abschmink-Operation war die Vermeidung von nationalen Referenden darüber, wie d'Estaing oder sein Vize im Konvent, Giuliano Amato, unumwunden zugaben. Österreichisches Kuriosum: Während sich beim Verfassungsvertrag die Experten Heinz Mayer, Theo Öhlinger, Bernhard Raschauer und Heinrich Neisser einig waren, dass eine Volksabstimmung erforderlich sei, sieht das beim Reformvertrag keiner mehr so. Nur weil Fahne und Hymne demontiert wurden und der Außenminister jetzt Hoher Vertreter heißt?

Demokratischer? Ein bissl!

Laut Regierungen wird der Vertrag "demokratischer, sozialer und ökologischer". Beim Thema Demokratie bringt er tatsächlich einige Fortschritte gegenüber Nizza: Das Parlament darf nun in fast allen Bereichen mitentscheiden, auch wenn es in der Außen- und Sicherheitspolitik oder in der Atompolitik unverändert ohne Stimmrecht bleibt. Es darf auch weiterhin keine Gesetze initiieren und - anders als in den Mitgliedstaaten - die einzelnen Mitglieder der "Regierung" (Kommission) weder wählen noch abwählen.

Ein Beispiel: Wenn EU-Industriekommissar Günter Verheugen keine "nachhaltige" Industriepolitik macht (wie im Vertrag gefordert), sondern nationalistische (deutsche) und unökologische (Autohersteller-)Interessen vertritt, kann ihm das Europaparlament nicht das Misstrauen aussprechen, es müsste auch die restlichen 26 (nach 2014 weniger) Kommissare abberufen, was es nicht machen wird. Man kann das - in Summe - als "größten Demokratieschub der letzten zwanzig Jahre" bezeichnen wie der österreichische Europaparlamentarier Othmar Karas oder als das inakzeptable Zurückbleiben hinter dem Demokratieniveau der Nationalstaaten.

Der wirkliche Skandal der neuen europäischen Hausordnung ist der allumfassende Vorrang des Wettbewerbs bei gleichzeitig schwindsüchtiger Sozialpolitik. Die Verschlechterungen gegenüber Nizza sind sonder Zahl: Die neue Verpflichtung zu Budgetüberschüssen wird ohne Maßnahmen gegen Steuerwettbewerb die öffentlichen Defizite vergrößern und den Druck auf Sozialabbau und Privatisierungen verschärfen. Die Preisstabilität wird zum neuen Unionsziel, was von Arm zu Reich umverteilt und Arbeitsplätze kostet. Der neue Hinweis auf "Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse" (die EU kennt keine öffentlichen Dienstleistungen) schützt diese nicht vor dem Wettbewerbsrecht, sondern liefert sie ihm aus.

Obwohl die EU sich in Afrika gerade eine empfindliche Abfuhr bei ihrer Offensive für "Freihandel" (besser: Zwangshandel) geholt hat, wird der globale Einsatz dafür noch verschärft. Von fairem Handel kein Wort! Ausländische Direktinvestitionen werden neu in die gemeinsame Handelspolitik aufgenommen. Das heißt, falls ein neues Investitionsschutzabkommen wie das MAI droht, könnte kein nationales Parlament mehr dagegenstimmen. Auf das wachsende Unbehagen gegenüber der Globalisierung reagiert der Reformvertrag mit Demokratieabbau.

2008: Jahr der EU-Rüstung

Absolut unerklärlich ist Artikel 27 des EU-Reformvertrags: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern." Ich dachte, die EU sei ein Friedensprojekt. Der Vertrag sieht erstmals eine Rüstungsagentur vor. Deren erster Chef Alexander Weis bezeichnete 2008 vorsorglich als "Jahr der Rüstung". Das Wort "Abrüstung" oder eine "Friedensagentur" sucht man vergeblich im Vertragstext. Die NATO wird aufgewertet: Während die Sicherheitspolitik der NATO-Mitglieder im Vertrag von Nizza der Sicherheitspolitik der EU "nicht zuwiderlaufen" durfte, bildet im Reformvertrag die NATO "das Fundament" der Sicherheitspolitik ihrer EU-Mitglieder. Eine echte Friedensunion müsste in ihrer Verfassung festschreiben, dass Mitglieder, die einen Angriffskrieg starten, automatisch die Mitgliedschaft verlieren. Das könnte einen zukünftigen Irakkrieg verhindern, weil sich Großbritannien, Polen, Spanien und Co einen Bruch des Völker- und Menschenrechts dreimal überlegen würden. Die Grundrechtecharta ist an sich erfreulich, doch dass sie in den Anhang verbannt wurde, provoziert. Sie gilt auch nicht für alle, Polen und England zieren sich. Neben dem Euro und Schengen gibt es damit in einem weiteren Fall ein Kerneuropa mit dem vollen Rechtsbestand und eine Peripherie, in der weniger EU-Recht verpflichtend ist. Bei den Grundrechten ist das besonders peinlich.

Wie soll die EU international glaubwürdig als Menschenrechtsgemeinschaft auftreten, wenn sie sich beim Freihandel einig ist, aber nicht bei den Grundrechten? Die Abschwächungsformeln: "Durch die Charta werden die Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert" und: "(sie) macht die anerkannten Rechte und Grundsätze besser sichtbar, schafft aber keine neuen Rechte oder Grundsätze" nehmen ihr jede Kraft. So wird die Charta keine einzige EU-Bürgerin und keinen einzigen EU-Bürger aus der Armut holen, mit einem Arbeitsplatz, einer Krankenversicherung oder Obdach ausstatten. Eine menschennahe Union müsste neben den budgetären auch verbindliche soziale und ökologische Konvergenzkriterien festschreiben, etwa so: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, die Armut und Arbeitslosigkeit schrittweise zu verringern." Und: "Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihren Ressourcenverbrauch jährlich um drei Prozent zu verringern." Dazu die Androhung, sollten die messbaren Ziele nicht erreicht werden, flattern blaue Briefe ins jeweilige Regierungshaus.

Null Umverteilungspolitik

Da in der Sozial- und Steuerpolitik das Einstimmigkeitsprinzip weiter gilt und man dadurch die Handlungsfähigkeit der Union ausgerechnet dort nicht erhöht, wo sie am dringendsten nötig wäre, wird der innereuropäische Standortwettbewerb unvermindert weitertoben. Der Binnenmarkt wird als soziale Zentrifuge Reich und Arm polarisieren - ohne jeden Umverteilungsmechanismus. Ein europäisches Sozialmodell, das sich gegen das neoliberale US-Modell ernsthaft profilieren will, müsste sagen: Wir richten BIP-abhängige Lohn- und Sozialkorridore ein (mit Konvergenzziel EU-weiter Mindest- und Höchstlohn) und schaffen gemeinsame Arbeits- und Steuerstandards, um den Standortwettbewerb ein für allemal zu beenden. Aber von alledem findet sich keine Spur im Reformvertrag. Doch solange die EU einseitig nur die Wirtschaftsfreiheiten durchsetzt, wird das unsoziale Ergebnis Populisten und Nationalisten einladen, ihr Anti-EU-Süppchen zu kochen. Wenn die Regierung pro-europäische Kritiker mit Nationalisten in einen oppositionellen Eintopf wirft, um sich vor einer differenzierten Debatte zu drücken, ist dem Demokratie-, Friedens- und Wohlstandsprojekt ein Bärendienst erwiesen.

In Österreich: "Speed kills"

Die österreichische Regierung setzt auf "speed kills": Im Dezember peitschte sie in Rekordgeschwindigkeit eine Verfassungsreform durch den Nationalrat, um sich das Ermächtigungsgesetz zur Ratifizierung des Reformvertrages zu ersparen. Damit gewinnt sie drei Monate. Und die demokratische Diskussion verliert drei. Die viel beschworene europäische Öffentlichkeit wird im Keim erstickt. So macht man den Menschen das europäische Haus, das sie bewohnen sollen, nicht schmackhaft. In Österreich verlangen daher in der Plattform "Volxabstimmung" mehr als 40 Organisationen ein Referendum über den Reformvertrag. Und 17 europäische Attac-Organisationen fordern, dass die Menschen direkt die Mitglieder eines Konvents wählen sollen, der daraufhin die Hausordnung für die Europäische Union - also einen neuen Vertrag - verfasst. Über das Ergebnis entscheidet der Souverän: Die EU-Bürgerinnen und Bürger.

Der Autor ist freier Publizist und Mitbegründer von Attac Österreich und schrieb "50 Vorschläge für eine gerechtere Welt". Im März erscheint sein Buch "Neue Werte für die Wirtschaft" bei Deuticke.

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