Für eine Union zum Quadrat

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Die in Aussicht genommene Erweiterung der Europäischen Union macht nach allgemeiner Auffassung eine Reform der Institutionen unumgänglich. Die jetzigen EU-Institutionen entsprechen im wesentlichen noch jenen der Sechsergemeinschaft von 1957 und sind für eine Union von 20, 25, 30 und mehr Staaten zu schwerfällig. Die EU-Regierungskonferenz von 1996/97 brachte diesbezüglich kein Ergebnis; beim Abschluss des Amsterdamer Vertrags von 1997 wurde in einem Protokoll bloß festgelegt, dass die Institutionenreform spätestens ein Jahr vor der nächsten Erweiterung abgeschlossen sein müsse. Der Umstand, dass die ersten der neuen Mitglieder praktisch vor der Tür stehen, aber auch, dass die derzeitige französische Ratspräsidentschaft einen Durchbruch beim Europäischen Rat von Nizza am kommenden 7. und 8. Dezember als Prestigefrage betrachtet, lässt nunmehr eine Einigung möglich, wenn auch nicht sicher erscheinen.

Vorbereitet wird die Reform von einer Regierungskonferenz, die einmal im Monat auf Ministerebene zusammentritt. Zwischendurch gibt es einmal wöchentlich Treffen einer Vorbereitungsgruppe aus Staatssekretären oder den sogenannten Ständigen Vertretern der Mitgliedstaaten in Brüssel, wobei sich eine Untergruppe ausschließlich mit der Reform des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) befasst. Der Europäische Rat hat den Prozess durch seine Schlussfolgerungen von Wien (Dezember 1998) und Köln (Juni 1999) grundgelegt und in Helsinki (Dezember 1999) eine umfangreiche Themenliste beschlossen, bereits zweimal, in Santa Maria da Feira (Juni 2000) und in Biarritz (Oktober 2000), den Fortschritt der Regierungskonferenz evaluiert und in einigen Punkten eine Ausweitung deren Mandats vorgenommen.

Ursprünglich lagen die Vorstellungen der "großen" und der "mittleren" beziehungsweise "kleinen" Mitgliedstaaten ziemlich weit auseinander. Die ersteren (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien) suchten die Entscheidungsprozesse vor allem durch die Verringerung der Mitbestimmung der letzteren zu beschleunigen, während diese wiederum auf bestimmte (von ihnen als solche angesehene) Mindestrechte nicht verzichten wollten. Dies schlug sich insbesondere in den Auseinandersetzungen um Größe und Zusammensetzung der (aus zwar von den Mitgliedstaaten einvernehmlich ernannten, danach aber völlig unabhängigen Persönlichkeiten bestehenden) Kommission sowie um die Gewichtung der Stimmen im Rat, wo die Mitgliedstaaten durch weisungsgebundenen Regierungsangehörige vertreten sind, nieder.

Junior-Kommissare?

Die "Großen", die je 2 der gegenwärtig 20 Kommissare stellen, erklärten sich zum Verzicht auf ihren jeweils zweiten Kommissar gegen Verstärkung ihres Stimmengewichts im Rat bereit, wollten aber die Zahl der Kommissare mit 12 bis 15 begrenzen, wobei sie für sich je einen "ständigen Sitz" beanspruchten, während für die übrigen Mitgliedstaaten das Rotationsprinzip gelten sollte. Die "Mittleren" und "Kleinen" waren zwar für die Erhaltung der Kommission als des für die Wahrung des Gemeinschaftsinteresses notwendigen "Integrationsmotors". Gleichzeitig vertraten sie jedoch unnachgiebig den Standpunkt, gerade diese Rolle der Kommission mache es zur Erhaltung ihrer Glaubwürdigkeit und der Akzeptanz ihrer Initiativen besonders wichtig, dass aus jedem Mitgliedstaat ein Kommissar komme. Überdies sei für die Bevölkerung jedes Mitgliedstaates der Kommissar ihrer Staatsangehörigkeit von hohem "integrationspsychologischem" Wert.

In der Folge konzentrierte sich die Diskussion auf zwei alternative Modelle, nämlich eine Kommission ohne zahlenmäßige Obergrenze mit je einem Kommissar pro Mitgliedstaat oder eine Plafondierung mit 12 bis 15 Kommissaren mit Rotation unter allen Mitgliedstaaten. Da letzteres als früher oder später unvermeidlich angesehen wird, wurde in Biarritz ein Kompromiss dahingehend vorgeschlagen, die Kommission vorerst mit einer höheren Zahl (23, 25 oder 27 Kommissare) zu plafondieren, bei Aufnahme weiterer Mitglieder die Kommission aber drastisch (auf 20, 15 oder gar 12 Kommissare), wiederum mit gleicher Rotation unter allen, zu verkleinern.

Weitgehend einig ist man sich darüber, dass der Präsident der Kommission weiter gestärkt und unter anderem mit dem Recht ausgestattet werden soll, ein Kommissionsmitglied gegebenenfalls zum Rücktritt aufzufordern. Die "großen" Mitgliedstaaten wollen darüber hinaus für den Fall, dass auch den übrigen "ihr" Kommissar erhalten bleibt, die Zahl der Vizepräsidenten vermehren. Die Zahl der "amtsführenden" Kommissare, also jener, die einem Ressort (bestehend aus einer oder mehreren Generaldirektionen, ähnlich einem mitgliedstaatlichen Ministerium) vorstehen, soll hingegen beschränkt werden. Den übrigen Kommissaren würden dann nur einzelne spezielle Aufgaben übertragen. Da dies unter den Kommissaren faktisch zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft führen würde (die Kommissare der "Großen" wären wohl immer "amtsführend", jene der übrigen aber nur in Rotation), ist mit Widerstand zu rechnen.

Stimmengewichtung Im Rat besteht seit der Gründung der Gemeinschaften eine Gewichtung der Mitgliedstaaten der Art, dass jeder der "großen" zwar mehr Stimmen als jeder der "mittleren" und "kleinen", jeder der letzteren aber immer noch mehr Stimmen hat, als ihm allein aufgrund seiner Bevölkerungszahl zukämen. Dies stellt einen Ausgleich im Sinne eines Föderalismus dar, der gerade für supranationale Gemeinschaften, die sich über eine internationale Organisation bereits hinausentwickelt, aber noch keinen Staatscharakter erlangt haben, angemessen erscheint. Diese Gewichtung führt derzeit dazu, dass ein qualifizierter Mehrheitsbeschluss nur von einer Mehrheit aller Mitgliedstaaten einschließlich der Mehrheit der "Großen" gefasst werden kann, wobei die Schwelle zur qualifizierten Mehrheit stets bei knapp über 71 Prozent aller Stimmen lag.

Für die Zukunft wäre, da alle gegenwärtigen Beitrittswerber außer Polen und Rumänien als "mittlere" und "kleine" Staaten einzustufen sind, im Rat eine Verschiebung des Gewichts zu deren Gunsten zu erwarten. Daher fordern die "Großen" jetzt ihrerseits erhöhtes Gewicht. Derzeit sind mehrere Modelle in Diskussion.

Quadratwurzelmodell Von den zwei Modellen mit "doppelter Mehrheit" sieht das von der Kommission vorgeschlagene vor, dass für einen Beschluss die Mehrheit der Mitgliedstaaten, soweit diese auch die Mehrheit aller EU-Bürger umfassen, genügt. Nach dem anderen ist zwar auch die Mehrheit der EU-Bürger, darüber hinaus aber eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten nach den heute geltenden Grundsätzen erforderlich.

Die "Neugewichtungsmodelle" verzichten auf eine Erhebung der Bürger-Mehrheit. Nach einem portugiesischen Vorschlag sollen die derzeitigen Stimmen jedes Mitgliedstaates verdoppelt und den "Großen" noch zusätzlich je fünf Stimmen draufgeschlagen. Den "Großen" geht das nicht weit genug. Italien hat vorgeschlagen, den "Großen" je 33 (Spanien und später Polen 27), den "Kleinsten" nur je drei, den übrigen aber soviele Stimmen zuzuteilen, dass die "Großen" in Zukunft mehr als das Dreifache, alle anderen aber höchstens das Doppelte ihrer derzeitigen Stimmenzahl hätten. Dieser Vorschlag findet aber nicht nur aus diesem Grund breite Ablehnung, sondern auch, weil bei einer solchen "Umschichtung" für eine qualifizierte Stimmenmehrheit im Rat nicht einmal die Mehrheit aller Mitgliedstaaten erforderlich wäre.

Die meisten neigen dem von Schweden vorgelegten "Quadratwurzelmodell" zu, das einerseits auch unter den "Großen" nach der Bevölkerungszahl differenziert (Deutschland hätte 18, Frankreich, Großbritannien und Italien je 15, Spanien und Polen noch entsprechend weniger Stimmen), andererseits den "Mittleren" und "Kleinen" ein gegenüber heute zwar reduziertes, im Vergleich zum italienischen Vorschlag aber immer noch größeres Gewicht geben würde.

Je mehr Mitglieder die Union hat, umso schwieriger ist es, einstimmige Beschlüsse zu erreichen. Es besteht daher Konsens, dass ein möglichst weitgehender Übergang zum Mehrheitsprinzip wünschenswert ist. Wo dies erfolgen soll, ist freilich noch umstritten; in den wichtigen Bereichen Kohäsion (innergemeinschaftlicher Finanzausgleich), Steuern, Soziales, Umwelt, Migration und Asyl sowie Diskriminierung beziehungsweise Gleichbehandlung und internationale Verhandlungen über Dienstleistungen und geistiges Eigentum sind nur Teilerfolge zu erwarten.

Die schon im Amsterdamer Vertrag eingeführte Möglichkeit der verstärkten Zusammenarbeit unter einer Mehrheit, aber nicht allen Mitgliedstaaten soll, als dynamisches Element der Integration, erleichtert und auf die "zweite Säule" (GASP, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) erstreckt werden, die Kernbereiche Binnenmarkt und Kohäsion aber ausgenommen bleiben.

Der EuGH soll durch eine Ausweitung der Kompetenzen des Gerichts Erster Instanz auf (bestimmte) Vorabentscheidungsverfahren und die verstärkte Anwendung der Kammergerichtsbarkeit entlastet werden.

Sanktionenfrage Für die im Falle der Erweiterung notwendige Neuverteilung der Sitze im Europäischen Parlament, deren Zahl der Amsterdamer Vertrag mit 700 limitiert hat, werden zwei Alternativen diskutiert, nämlich (jeweils mit Einziehung einer Untergrenze für die "Kleinsten") entweder eine lineare Kürzung oder ein Proporz nach der Bevölkerungszahl, was auch eine deutliche Differenzierung unter den "Großen" mit sich brächte. Entsprechende Überlegungen gibt es auch für den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen.

Auch der durch die Sanktionen gegen Österreich ausgelöste Diskussionsprozess soll in Nizza eine Klärung erfahren. Was eine Verletzung der Europäischen Grundwerte durch einen Mitgliedstaat anlangt, so geht es vor allem darum, die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens gegen diesen zu sichern und eine Umgehung (durch bilaterale Maßnahmen) auszuschließen. Weiters wird die Aufnahme des Tatbestandes der Gefahr einer solchen Verletzung diskutiert; hier sollte es keine Sanktionen, sondern nur Empfehlungen an den betreffenden Mitgliedstaat geben.

Der Autor lehrt Völker- und Europarecht an der Johannes-Kepler-Universität Linz.

Eine Debatte über die in Nizza abgehandelten Themen lesen Sie auf Seite 17.

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