Die EU – eine Patchwork-Familie

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Die „Zürcher“ sieht in der EU kein bürokratisches Brüssel-Monster, sondern lobt das gemeinsame Haus mit den unterschiedlichen Zimmern.

Die EU ist ein bürokratisches Monster, das die Mitgliedstaaten dem Diktat aus Brüssel unterwirft. Diese Ansicht ist populär, mit ihr haben einige europhobe Parteien bei den EU-Wahlen erfolgreich Stimmen geholt, doch die Position stimmt nur bedingt mit den Fakten überein. Denn die Europäische Union hat inzwischen einige Übung darin entwickelt, auf nationale Sonderwünsche einzugehen und dennoch die Gemeinschaft der 27 zusammenzuhalten. So billigte der EU-Gipfel den Iren Garantien zu, die diesen die Zustimmung zum Vertrag von Lissabon in einem zweiten Referendum im Herbst erleichtern sollen.

Inhaltlich sind diese Zusicherungen weitgehend symbolischer Natur, da mit ihnen nur bekräftigt wird, was ohnehin Unionsrecht ist: Die Steuergesetzgebung und die Verteidigungspolitik sind nationale Domänen, auch Abtreibungen regeln die Mitgliedstaaten von jeher unterschiedlich. Umstritten waren die Garantien vielmehr wegen ihrer juristischen Ausgestaltung. Vor allem die Briten fürchten, ein Protokoll zum Vertrag von Lissabon gebe den EU-Gegnern eine Handhabe, bei der erforderlichen Ratifikation des zusätzlichen Dokuments weitere Volksabstimmungen über «Lissabon» zu erzwingen.

Passivmitglied Schweiz akzeptiert Schengen und Euro

Gravierender als das irische Sonderzüglein sind die Spezialklauseln, die sich seinerzeit Dänen und Briten ausbedungen hatten. Doch in der Praxis bedeuten diese keine Einschränkung im Alltag der EU, problematisch ist allenfalls ein Demokratiedefizit. So stimmen britische und dänische Abgeordnete im EU-Parlament verbindlich über Fragen ab, bei denen ihre nationalen Regierungen Sonderrecht beanspruchen. Briten und Dänen unterstellen damit die Bürger der anderen Staaten Gesetzen, die für sie selbst nicht gelten. Um dieses Problem macht man indes kein Aufheben und sichert damit die Flexibilität der EU. Diese gleicht so einer Patchwork-Familie. Die Vollmitglieder Grossbritannien und Schweden gehören nicht zur Euro-Zone, die Briten überdies nicht zu Schengen, während das Passivmitglied Schweiz Schengen beigetreten ist und den Euro mancherorts als inoffizielle Zweitwährung akzeptiert. […]

Nach innen flexibel, nach aussen elitär und abwehrend

Es ist das Verdienst von Briten, Dänen, Niederländern und Iren, mit ihrem Widerstand gegen einzelne Vertragswerke dafür gesorgt zu haben, dass die EU heute weniger zentralistisch ist. Auch der Beitritt der Osteuropäer hat die EU vielfarbiger gemacht.

Die Kehrseite ist, dass die EU über all diesen Veränderungen ein wenig müde und lustlos geworden ist. An weitere Schritte der Integration oder Erweiterung mag kaum mehr jemand denken. „Lissabon“ unter Dach und Fach bringen, Kroatien und allenfalls Island aufnehmen – dann ist Schluss. So lautet die offizielle Lesart gerade bei den einstigen Europa-Enthusiasten in Paris und Berlin. Die Länder des Westbalkans dürfen sich auf absehbare Zeit keine Beitrittshoffnungen machen, von der Ukraine ganz zu schweigen.

Bei der Gestaltung seiner inneren Angelegenheiten ist der europäische Klub flexibel, nach aussen hin aber gibt er sich elitär und abwehrend. Auch der Kampf gegen vermeintliche Steueroasen ist kein Zeichen von Stärke. Die EU hat ihr ambitioniertes Ziel, wettbewerbsfähigster und innovativster Wirtschaftsraum der Welt zu werden, faktisch aufgegeben. […] Auf Dauer genügt die Defensive nicht, gerade ihre Aussenbeziehungen muss die Union aktiv gestalten. In der Vergangenheit hat sie jedoch gezeigt, dass sie – anders, als ihre Verächter meinen – flexibel und pragmatisch genug ist, ihren Kurs auch zu ändern.

Neue Zürcher Zeitung, 20./21. Juni 2009

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