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Im Schatten des Wohlfahrtsstaates

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230.000 Wiener müssen auch in diesem Sommer auf einen Urlaub verzichten. Denn trotz aller sozialen Hilfen fristen sie ein Leben am Rand oder unter der Armutsgrenze.

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230.000 Wiener müssen auch in diesem Sommer auf einen Urlaub verzichten. Denn trotz aller sozialen Hilfen fristen sie ein Leben am Rand oder unter der Armutsgrenze.

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Vor kurzem wurden die Ergebnisse einer Studie des „Instituts für empirische Sozialforschung“ (IFES) über „Soziale und ökonomische Deprivation in Wien“ vom Jugendamt der Stadt Wien veröffentlicht. Hatte die Inangriffnahme der Studie einer relativ langen Anlauffrist bedurft und war die Veröffentlichung der Studie von Monat zu Monat verschoben worden, so zeugt die letztendlich erfolgte Präsentation der Studie doch von einem gewissen Mut der Stadtverwaltung, die Zahl der Armen der Öffentlichkeit bekanntzugeben.

Zwar wurde in der Presseunterlage die statistisch erhobene Zahl von 230.000 armen Wienerinnen und Wienern ausgespart und außerdem betont, daß seit 1971 die Zahl armutsgefährdeter Familien von damals 16,8 Prozent aller Wiener Haushalte auf 13,8 Prozent zurückgegangen sei, jedoch läßt die Tatsache, daß heute immer noch 100.365 Wiener Haushalte unter der Armutsgrenze leben, Sofortmaßnahmen gegen die Familienarmut als absolut notwendig erscheinen.

Wie wurde aber die Zahl der 100.365 armutsgefährdeten Wiener Haushalte eruiert? Als ar-mutsgef ährdet wurden alle Haushalte eingestuft, in denen das monatliche Pro-Kopf-Einkommen unter 4.999 Schilling (ein Mittelwert zwischen Ausgleichszulagenrichtsatz, Notstandshilfe und dem Richtsatz für Dauerbefür-sorgte) liegt. Damit orientierte sich die IFES-Untersuchung an den offiziellen Mindesteinkommenssätzen und anerkannte damit indirekt den Gedanken eines Mindestexistenzminimums.

Wie die repräsentative Studie zeigt, müssen in Wien 4,9 Prozent oder 35.630 aller Wiener Haushalte mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von nicht mehr als 3.999 Schilling monatlich ihr Auslangen finden. Bei weiteren 4,3 Prozent der Haushalte (absolut: 31.314 Haushalte) überschreitet das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen nicht die 4.500-Schilling-Marke. Weitere 4,6 Prozent der Wiener Haushalte (33.421 Haushalte) müssen sich schließlich mit einem ProKopf-Einkommen zwischen 4.500 und 4.999 Schilling begnügen.

Insgesamt leben also 100.365 von 725.468 Privathaushalten in Wien unter der Armutsgrenze. Das sind 230.000 Personen, von denen wiederum 185.000 im Familienver-, band leben (45.000 wurden als Ein-personen- oder Studentenhaushalte gezählt).

Unter der armutsgefährdeten Personengruppe ist ein überdurchschnittlich hoher Anteil jüngerer Menschen, die sich noch in Ausbildung befinden, aber nicht mehr im elterlichen Familienverband leben, und ein leicht höherer Anteil von Frauen festzustellen. Außerdem finden sich Berufstätige in unteren Berufspositionen sowie Behinderte und Menschen mit einem schlechten Gesundheitszustand in der Armutszone.

Besonders betroffen sind auch Teilfamilien. 24 Prozent der Familien mit einem Erwachsenen und einem Kind und 44 Prozent der Familien mit einem Erwachsenen und mehreren zu erhaltenden Personen fallen unter die Armutsgrenze.

Auch bei den Vollfamilien zeigt sich, daß die Armutsgefährdung mit der Kinderanzahl steigt. 21 Prozent der Familien mit zwei und 28 Prozent der Familien mit drei und mehreren Kindern sind laut IFES-Studie als armutsge-fährdet einzustufen. Nach Arbeitslosigkeit des Haushaltsvorstandes erweist sich somit die Kinderzahl als häufigster Grund für Familienarmut: eine Tatsache, die die Forderung der päpstlichen Kommission „Iustitia et Pax“ nach Einführung eines gesetzlichen Existenzminimums für Familien gleichsam im nachhinein bestätigt.

„Iustitia et Pax“ hat nämlich erst im Juni vorgeschlagen, das Einkommen einer Familie bis zum jeweiligen Existenzminimum nicht zu versteuern und Familien, die dieses trotz Familienbeihilfe nicht erreichen, eine Ausgleichszulage bis zur Erreichung des Existenzminimums zu gewähren.

Herwig Kucera, der als Wiener Familienverbandspräsident in der „Iustitia et Pax“-Arbeits-gruppe „Soziale Gerechtigkeit“ mitarbeitet, meint zu dieser Forderung: „Den Erwachsenen wird ein Mindestlebensstandard zugebilligt - sei es durch Einkommen, Lohn, Pension oder Sozialhilfe -, den Kindern aber nicht. Da aber die Familienbeihilfe nicht einmal die Hälfte der Mindestkinderko-sten deckt, ist klar, daß eine höhere Kinderzahl selbst in Familien mit durchschnittlichem Einkommen in die Armut führt.“

Als weitere armutsgefährdende Faktoren gibt die IFES-Studie berufsspezifische Einflüsse (Arbeiter sind eher von Armut bedroht), Krankheit oder Behinderung einer im Haushalt lebenden Person sowie Scheidung an.

Ein für die Armutsforschung äußerst wichtiges Kriterium sind die Wohnungskosten. Belasten Miete, Betriebskosten, Stromund Heizungskosten das Budget eines durchschnittlichen Wiener Haushaltes mit 22 Prozent, so steigt diese Belastung bei den armutsgefährdeten Haushalten auf 41 Prozent. Rechnet man durchschnittlich acht Prozent für Rückzahlung von Krediten dazu, so ergibt sich eine Fixbelastung des Haushaltsbudgets von 50 Prozent.

Das heißt, daß ungefähr die Hälfte der ohnehin niedrigen Haushaltseinkommen armutsgefährdeter Haushalte für Wohnungskosten und Rückzahlung von Krediten ausgegeben werden muß, eine Tatsache, die besonders prekär ist, wenn man bedenkt, daß sechs von zehn dieser Haushalte über keinerlei finanzielle Rücklagen verfügen.

Nur 28 Prozent der Haushalte unter der Armutsgrenze und 19 Prozent der Teilfamilien beziehen aber eine Wohnbeihilfe — eine Tatsache, die Familienverbandspräsident Kucera erbost: „Es müßte bei der Wohnbeihilfe wesentlich mehr Rücksicht auf das Familieneinkommen genommen werden. Während derzeit dem Alleinstehenden bis zu einem monatlichen Netto-Einkommen von 5.100 Schilling der Grundzins durch die Wohnbeihilfe zur Gänze ersetzt werden kann, geschieht dies bei einer Familie mit einem Kind nur bis zu einem Pro-Kopf-Einkommen von 4.045 Schilling, bei einer Drei-Kind-Familie sogar nur bis zu einem Pro-Kopf-Einkommen von 3.917 Schilling -jeweils inklusive Familienbeihilfe. Uberhaupt zeigt die Studie, wie wichtig umfassende Information über mögliche Hilfen für ar-mutsgefährdete Personen wäre.“

In diesem Zusammenhang bleibt zu hoffen, daß die Ergebnisse der Studie von der Stadtverwaltung nicht zur Selbstbeschwichtigung mißbraucht werden — nach dem Motto: „Es ist ja heute ohnehin besser als 1971“ —, sondern Anlaß zu konkreten Maßnahmen sind. Die ausführliche Information über Hilfsmöglichkeiten wie die Sozialhilfe und die Einführung einer verbilligten Monatsmarke bei der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel für Sozialhilfeempfänger wären erste Schritte in diese Richtung. Vielleicht sogar in Richtung gesichertes Existenzminimum.

Der Autor ist Pressereferent des Katholischen Familienverbandes Wien.

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