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Ein Mini-Vietnam

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Die Barone des gaullistischen Regimes bestätigen ihren Wählern in den Sonntagsreden: „Seitdem unser General im Mai 1958 den Parteien-Staat beendete und 1962 mit Algerien Frieden in Evlan schloß, fand Frankreich Ruhe. Die Zeit militärischer Expeditionen ist vorüber. Keiner unserer jungen Soldaten muß den Heldentod auf fernen Kriegsschauplätzen erleiden.“

Diese Behauptung klang bis 12. Oktober 1970 überzeugend So gut wie niemand wußte etwas vom Einsatz französischer Truppen und Fremdenlegionäre im Staate Tschad. Lediglich bei den Verhandlungen über die Lieferung von 110 Mirage-Flugzeugen mit Libyen wurde diskret hinzugesetzt: Die revolutionäre Militärjunta in Tripolis werde künftighin keine Waffen an die „Froli-nat“ liefern. Niemand in Paris wußte mit dem Namen dieser revolutionären Bewegung etwas anzufangen. Nach offizieller Darstellung waren es lediglich Viehdiebe und Briganten. Die Auseinandersetzung in Tschad fand in der öffentlichen Meinung Frankreichs kein Echo. Gelegentlich wurden im Fernsehen kriegerisch aussehende Offiziere gezeigt, die lächelnden Fremdenlegionären den Weg durch die Wüste wiesen. Aber Krieg? Es ist ein eisernes Gesetz der V. Republik, jede militärische Verpflichtung abzubauen und die Souveränität der ehemaligen Kolonien restlos anzuerkennen. Tschad ist weit von Paris entfernt Der oberste Herr dieser ehemaligen Kolonie, Francpis Tombalbaye, zählt nicht zu den erwünschten Gästen des Elysee-Palastes. Dort wird mit Würde und Zeremonie der Staatschef Senegals, Senghor, empfangen, der sich als ehemaliger Mittelschulkollege Pompidous besonderer Freundschaft in Paris erfreut. Gelegentlich hört man auf einen anderen Weisen des schwarzen Afrika, Houphouet-Boigny, eine parlamentarische Zierde der IV. Republik. Hingegen wurde dem ehemals hofierten Regierungschef des französischen Kongo, Abbe Youlou, sogar verboten, sich in Frankreich niederzulassen. Der Führer der zentralafrikanischen Republik, General Bokassa, spielt sich als mißgünstiger Kritiker französischer neokolonialer Methoden auf.

Die Beziehungen von Paris zu den früheren afrikanischen Kolonien liegen wie hinter einem Schleier verborgen. Man weiß, daß Frankreich die größte Entwicklungshilfe der westlichen Staaten den afrikanischen Ländern zur Verfügung stellt. Gewisse Beistandsverträge zwischen der V. Republik und den souverän gewordenen Staaten Afrikas wurden publiziert. Etwa die Verträge, die vom 11. bis 15. August 1960 mit der Zentralafrikanischen Republik, dem französischen Kongo und dem Staat Tschad abgeschlossen wurden. Demnach verpflichten sich die unterzeichneten Parteien im Falle äußerer Angriffe oder subversiver Kriege, Beistand und gegenseitige Waffenhilfe zu leisten. Aber Paris interpretiert dieses Vertragswerk überaus großzügig. Völkerrechtler haben nachgewiesen, daß nicht nur Frankreich, sondern auch die betroffenen Länder Tschad zu unterstützen hätten. Im französischen Kongo (nicht zu verwechseln mit dem ehemaligen Belgischen Kongo) pflegen junge Offiziere marxistisch-maoistisohes Gedankengut. Die Zentralafrikanische Republik verwandelte sich in eine üble Militärdiktatur. Der Staatschef des Tschad folgte „guten Vorbildern“ und etablierte 1962 die „progressive Staatspartei“ als einzige politische Willensbildung. Er unterdrückte sämtliche Oppositionen der mohammedanischen Bevölkerung, die sich pflichtschuldig nach Tripolis, Kairo und Algier wandte. In der politischen Geographie des modernen Afrika nimmt Tschad eine Schlüsselposition ein. Dieses Land liegt an der Nahtstelle der mohammedanischen Staaten des Nordens und den christlichen, nach dem Westen ausgerichteten Gebieten Mittelafrikas. Und im Nachbarstaat Niger ruhen vermutlich die größten Uranvorkommen der Welt.

Nachdem die Franzosen aus Tschad abzogen, errichtete Tombalbaye sein autoritäres und nach allen Aussagen überaus korruptes Regime. Eine kleine Kaste französisch gebildeter Technokraten beutete das Land aus und zerstörte das Gleichgewicht, welches seit Jahrhunderten die einzelnen Stämme verband. Im Jahre 1965 brachen ernste kriegerische Konflikte aus. Zwei des Ursprunges nach verschiedene Stämme empörten sich gegen die Zentralregierung. Der Staatschef von Tschad pochte auf den Vertrag 1960 und rief die französische Armee zu Hilfe. Die Pariser Regierung zögerte lange. Da sie ihr Wort nicht brechen wollte und unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten mit den übrigen Ländern des französischen Afrika wurden etwa 2000 Mann aus Spezialtauppen und den Fremdenlegionären — meistens Deutsche — nach Fort Lamy entsandt. Seit eineinhalb Jahren steht diese vorzüglich ausgerüstete Truppe im Kampf gegen einen Feind, der sämtliche Erfahrungen aus Algerien und dem Sudan verwendet und die offene Unterstützung arabischer Staaten genießt. Im Jahre 1966 wurde im Sudan die Front der nationalen Befreiung „Frolinat“ gegründet, die gegenwärtig vom Arzt Abba-Siddick geleitet wird. Er hat in Paris Medizin studiert und übte sein Amt in Libyen aus. Abba-Siddick stellte Verbindung zur Palästina-Befreiungsfront, den Partisanen in den portugiesischen Kolonien und den revolutionären Kräften Äthiopiens her. Aus seinen bisherigen Erklärungeft geht das politische Ziel der „Frolinat“ nicht eindeutig hervor. Er proklamiert einen partei-plurali-stischen Staat sozialistischer Prägung.

Der Pariser Regierung kam dieser schmutzige Krieg höchst ungelegen. Mag die extreme Rechte von der Vertilgung der Kommunisten Tschads träumen, die Kommunisten und revolutionären Sozialisten den Neo-Kolonialismus anprangern, ist doch für die Regierung Chaban-Delmas die Option klar. Bis Mitte 1971 werden sämtliche französische Truppen mit Ausnahme einiger Flieger zurückgezogen. Paris fürchtet, sich in einem Mini-Vietnam zu engagieren, was international und innenpolitisch mit Schwierigkeiten verbunden wäre.

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