6671778-1961_02_07.jpg
Digital In Arbeit

Kassai, das Herz des Kongo

Werbung
Werbung
Werbung

„Piemont“ des Kongo-Nationalismus

Im Kraftfeld des belgischen Kongo wurde die Kassaiprovinz, zwischen den beiden Polen von Leopoldville und dem Industriegebiet von Katanga, ein Druckzentrum innerkongolesischer Binnenwanderung und die Geburtsstätte des gesamtkongolesischen Nationalismus. Der ältere, antieuropäische Nationalismus im Niederkongo, der seinen ersten sichtbaren Ausdruck in der 1921 gestifteten Sekte der „Kirche Jesu Christi nach Simon Ki- bangu“ und von 1950 an eine politische Organisationsform in der „Abako unter Führung von Joseph Kasavubu fand, hatte einen Staat des Volkes der Bakongo zum Ziel, dessen zweieinhalb Millionen Angehörige auf französische, portugiesische und belgische Kolonien verteilt waren. Die Idee einer kongolesischen Nation aller der verschiedenen Völker und Stämme der belgischen Kongokolonde kam aus dem Kassai.

Am 23. August 1958 war in der vom Baluba-Politiker Joseph Ngalula herausgegebenen Zeitschrift „Présence Congolaise", die den christlichen Gewerkschaften nahestana, eine auch von Politikern sozialistischer und ‘liberaler Richtung Unterzeichnete Petition veröffentlicht worden, die ein etappenweises Programm zur Erreichung der Unabhängigkeit des Kongo vorschlug. Die damit eröffnete Entwicklung führte nach der endlichen Zulassung politischer Parteien im Oktober 1958 in Luluaburg zur Gründung der „Kongolesischen Nationalbewegung“, des „Mouvement National Congolais“ (MNC). Im Gegensatz zu den bishin bestehenden Gruppen sollte diese keine regionale Interessenvertretung, sondern eine nationale Kampfbewegung gesamtkongolesischer Art sein, die einen Einheitsstaat mit starker Zentralgewalt anstrebte. Das Schicksal des MNC hat für die politische Entwicklung des Kongo ausschlaggebende Bedeutung erlangt. Zum Präsidenten der Bewegung war Patrice Lumumba, der Sohn eines Häuptlings der Batetela und später auch Vorsitzender deren regionaler Stammesföderation, gewählt worden, zum Vizepräsidenten der Ba- lubaführer Albert Kalonji. Der zwischen diesen beiden Männern entstehende Antagonismus gewann aus mehrfachen Gründen große Tragweite.

Baluba gegen Baluba

Die Batetela bilden im Nordosten von Kassai die am weitesten nach Süden vorgeschobene Gruppe der Nkundu-Mongo-Völker, deren Hauptmasse die Ostprovinz und die Äquatorprovinz bewohnen. Die Baluba, die an Zahl stärkste Volksgruppe im Kongo, sind auf Südostkassai und den Norden von Katanga verteilt. Die Baluba von Katanga sprechen indes nicht die gleiche Sprache wie die von Kassai und sind auch in geringerem Maße zivilisiert und christianisiert worden.

Die Baluba von Kassai sind eines der aktivsten Kongovölker. Infolge ihres starken Zuwachses sind sie aus ihren älteren Wohngebieten sowohl nach Katanga wie im Kassai nach Westen gewandert und haben sich besonders während der kolonialen Epoche in großer Zahl im Stammesgebiet der Bena Lulua, um Luluaburg und andere, neu entstehende Verwaltungszentren angesiedelt. Die Bena Lulua, die — wahrscheinlich aus der Zeit der nach dem 16. Jahrhundert bestehenden Lubareiche her — einen Luba- dialekt sprechen und jedenfalls nicht ohne verwandtschaftliche Beziehungen zu den Baluba sind, betrachteten als Vorbewohner des Kassai und Besitzer der Böden die Zuwanderer mit Zurückhaltung und blieben auch gegenüber der belgischen Verwaltung reserviert. Der Gegensatz verschärfte sich infolge der Strebsamkeit der Kassai-Baluba, die mit den belgischen Behörden zusammenarbeiteten und die Schulen frequentierten. Unglücklicherweise hat auch die Mission, die sich zuerst auf die volkreichen Baluba konzentrierte und dann bei ihrem späteren Vordringen zu den Bena Lulua auf Grund der sprachlichen Gemeinsamkeit viele christliche Baluba als Lehrer verwendete, dazu beigetragen, das kulturelle Übergewicht der Baluba zu verstärken. So bildete sich schon vor längerer Zeit eine völkische Vereinigung, die „Lulua-Freres“, um diesem entgegenzuwirken.

Das Erwachen des Kongo zu politischem Eigenleben gab diesen ethnischen und sozialen Spannungen neuen Auftrieb. Das MNC verband sich zunächst mit dem zahlenmäßig starken „Mouvement Solidaire Baluba“, wäh rend für die Lulua die „Union National Congolais“ auftrat. Gegen die drohende Majorisierung durch die Baluba suchte sie nun eine Anlehnung an die belgische Verwaltung, und diese schien auch geneigt, den Lulua — zunächst in Fragen strittiger Bodenrechte — entgegenzukommen.

Der umstrittene „Minenstaat“

Lumumba, der beim ersten allafrikanischen Völkerkongreß in Accra im Dezember 1958 erstmals international hervorgetreten und dort zu einem der Vizepräsidenten gewählt worden war, trat nun von seiner konsolidierten Basis im Kassai aus den Vorstoß nach Stanleyville an, wo er jahrelang gelebt und dem „Cercle des Evolues“ präsidiert hatte. Auch die Ostprovinz und das südliche Kivu wurden zu Hochburgen seiner Bewegung. Bei den Wahlen im Mai 1960 errang das MNC Lumumbas in der Ostprovinz allein die Mehrheit; in Kivu und auf dem Heimatboden des Kassai gelang dies durch ein geschicktes taktisches Bündnis, das im Kassai zuletzt mit der „Coaka" (Confédérale des associations tribales du Kassai) auch die meisten übrigen kleinen Stämme umfaßte. Da auch die Baluba von Katanga unter Iason Sendwe, im Gegensatz zur „Co- nakat“ Tschombes, damals zu Lumumba standen, konnte dieser sich schließlich mit der Unterstützung der „Parti Solidaire Africaine" (PSA)

Antoine Gizengas anläßlich der Regierungsbildung eine knappe Mehrheit im ersten Kongoparlament sichern. Es war eine Mehrheit verschiedener Kongovölker gegen andere Kongovölker. Hauptgegner waren neben Tschombe, die Baluba von Kassai im dissidenten MNC Kalonjis, die als einzige nicht einmal nominell an der Kongoregierung beteiligt wurden. Ihr einziger Erfolg blieb die Wahl Ileos zum Senatspräsidenten.

Die Baluba von Kassai suchten jetzt eine Teilung der Provinz zu erreichen, um nicht unter die Herrschaft der Anhänger Lumumbas zu gelangen. Schon in den letzten Juni tagen war von der Bildung einer Gegenregierung unter Ngalula die Rede. Bald nach Ausbruch der Meuterei der Armee flammte auch im Kassai der Krieg zwischen Lulua und Baluba wieder auf, und nach wochenlangem Morden traten die in den Luluagebieten ansässigen Baluba den Marsch nach ihrem Heimatgebiet um Bakwanga an. Am 9. August 1960 verkündete Kalonji die Schaffung des „Minenstaates’’ von Südkassai und später dessen „Konföderation" mit Katanga. Vierzehn Tage darauf besetzten tausend Mann der Armee, zumeist Batetela, Bakwanga und veranstalteten, dort jenes Massaker, das vom UNO- Generalsekretär später als „Genocid" qualifiziert wurde und den Anlaß zur Enthebung Lumumbas bildete.

Im Gebiet des „Minenstaates", der mit der Diamantenstadt Bakwanga gegen 1,5 Millionen Einwohner zählt, war es bis Ende August ruhig geblieben. Obzwar die europäische Bevölkerung zum Großteil evakuiert und die weißen Offiziere der Gendarmerie ent-

lassen wurden, kam es zu keinen Ausschreitungen gegen die Weißen. Die Bergbaugesellschaft „Forminiere“ arbeitete ungestört weiter. Ngalula, den Kalonji zum Premier ernannte, hatte in Bakwanga selbst bei den Wahlen fast sämtliche abgegebenen Stimmen erhalten. Obzwar der „Minenstaat“ international ebensowenig anerkannt worden ist wie Katanga, haben die Staatschefs der französischen Nachfolgestaaten auf der Konferenz in Brazzaville im Dezember Kalonji ebenso wie Tschombe jedenfalls protokollarisch als Staatsoberhaupt behandelt.

Nun wütet eine furchbare Hungersnot unter den seit dem Sommer aus den westlichen Kassaigebieten geflüchteten Baluba, deren Zahl auf mehrere Hunderttausend angestiegen ist. Österreichs UNO-Kontingent wird mithin in einem Teil Afrikas zum Einsatz gelangen, das der Hilfe in besonderem Maße und dringend bedarf.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung