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Die Wahlurne im Regenwald

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In der Republik Kongo (Kongo-Brazzaville) wurde, zum erstenmal seit zehn Jahren, wieder gewählt. Selbst Weiße, die seit vielen Jahren im Kongo leben und dessen Regierung Sympathie entgegenbringen, waren davon überzeugt, daß die üblichen afrikanischen Bestätigungswahlen bevorstanden, Wahlen, bei denen praktisch keine Möglichkeit bestand, anders als im Sinne der Regierung zu stimmen und die daher das übliche neunzig- bis hundertprozentige Ergebnis bringen würden.

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In der Republik Kongo (Kongo-Brazzaville) wurde, zum erstenmal seit zehn Jahren, wieder gewählt. Selbst Weiße, die seit vielen Jahren im Kongo leben und dessen Regierung Sympathie entgegenbringen, waren davon überzeugt, daß die üblichen afrikanischen Bestätigungswahlen bevorstanden, Wahlen, bei denen praktisch keine Möglichkeit bestand, anders als im Sinne der Regierung zu stimmen und die daher das übliche neunzig- bis hundertprozentige Ergebnis bringen würden.

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Ich war am Wahltag, dem 24. Juni dieses Jahres, im Südosten der Kongorepublik unterwegs und konnte die Stimmabgabe völlig unangemeldet in mehreren Ortschaften zwischen Mbinda und Mossendjo beobachten. Es war, für Schwarzafrika, so etwas wie ein historisches Ereignis — wahrscheinlich zum ersten Mal gingen schwarze Afrikaner zu einer Wahl, deren Charakter als geheime und freie Abstimmung strikt gewahrt wurde. Tausende Menschen strömten in den Dörfern, in denen die Wahlkommissionen amtierten, zusammen, viele von ihnen waren zwanzig oder dreißig Kilometer zu Fuß gegangen. Manche schwenkten ihre roten „Ja“-Stimmzettel oder stellten sich, die roten Stimmzettel in die Höhe haltend, unaufgefordert in Gruppen in Photopose, andere erklärten ungerührt: „Wir haben mit Nein gestimmt!“

Jeder wahlberechtigte Kongolese bekam nach Ausweisleistung einen roten (Ja-) und einen weißen (Nein-) Stimmzettel nebst Kandidatenliste sowie ein neutrales Kuvert in die Hand gedrückt und wurde damit in die — mit einem Vorhang verschlossene — Wahlzelle geschickt, wo auch für ein Ablagebrett zur Aufnahme der nicht gebrauchten Stimmzettel gesorgt war. Auch die Wahlurnen sahen so aus wie Wahlurnen überall auf der Welt.

Allerdings war die vierfache Wahl im Kongo (Abstimmung über eine neue Verfassung sowie Wahlen ins Parlament und in die regionalen und lokalen Selbstverwaltungskörperschatten) eine Wahl ohne Alternative. Jeder hatte die Möglichkeit, nein zu sagen und mit der neuen Verfassung auch die in wochenlangen Diskussionen ausgehandelten Kandidatenlisten abzulehnen, doch eine andere als die Einheitspartei („Partei der Arbeit“) gab es nicht.

Während afrikanische Wahlen üblicherweise jene totalen Ergebnisse bringen, die sich selbst disqualifizieren, hatten nur 73 Prozent der im Kongo abgegebenen gültigen Stimmzettel die von der Regierung erhoffte und in zahllosen Rundfunksendungen propagierte rote Farbe. Die Knappheit dieses Ergebnisses lähmte die Politiker für Tage, tagelang wurden nur lokale Einzelergebnisse verlautbart, bis sie erkannten, daß sie gerade durch diese Knappheit (nach afrikanischem Standard) und durch die außerordentlich starken, gebietsweisen Schwankungen einen überzeugenden Beweis für den korrekten Ablauf von Stimmabgabe und Auszählung und damit ein ermutigendes Beispiel für Demokratisierungstendenzen in ganz Afrika geliefert hatten.

Aber so sehr sich das übrige, vor allem das frankophone Afrika für die Wahlen im Kongo interessierte, so gleichgültig reagierte der Rest der Welt, der das demokratische Experiment eines äquatorialafrikanischen Staates einfach nicht zur Kenntnis nahm. (Ausspruch eines mitteleuropäischen Fernsehredakteurs: „Schauen Sie, Wahlen im Kongo sind für unser Publikum ungefähr so interessant wie das Thema Muttertag in Afrika!“)

Mehrere Umstände entziehen den Kongo dem Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit, sprich ihrer Massenmedien. Zunächst steht die „Republique Populaire du Congo“ noch immer stark im Schatten ihres mächtigeren und größeren Nachbarn, des ehemaligen belgischen Kongo, der genau seit jener Nacht, in der die UNO China als Mitglied aufnahm, nur noch Zaire heißt. Das Zusammentreffen war kein Zufall — Mo-butu, der sich teils superrevolutionär, teils amerikanischer als Nixon gebärdet, aber auch in Peking trotz allem noch immer gut angeschrieben ist, profilierte sich derart lautstark als Gegner der Aufnahme Chinas in die UNO, daß er seinen Kongolesen noch wenige Stunden, bevor sie Realität war, erklärte, derartiges würde nie geschehen. Kurz, nachdem „es“ trotzdem passiert war, verkündete Mobutu, dessen Stimme mindestens täglich einmal aus den Lautsprechern brüllt, es gebe keinen Kongo Kinshasa mehr, sein Land heiße nun Zaire. Damit wurde schlagartig die gesamte Aufmerksamkeit von der Außenpolitik (und von der Aufnahme Chinas in die UNO) abgelenkt. Der andere Kongo wurde dadurch von der lästigen Namenskonkurrenz befreit. Seither gibt es nur noch einen Kongo — Kongo-Brazzaville.

Die Weltanschauungen, hier das prowestliche Zaire, dort der spartanisch-marxistische Kongo trennen die Hauptstädte der beiden ungleichen Staaten tiefer als der Kongo, an dessen Ufern sie einander gegenüberliegen. Fast alle großen Fluggesellschaften landen in Kinshasa. Brazza-ville hat, außer lokalen Flügen sowie Anschlüssen nach Paris und in die Sowjetunion, nur einmal wöchentlich Flugkontakt mit Europa und der Welt.

All die modernen Hochhäuser, auf die man vor der Landung in Brazza-ville herabblickt, stehen auf der anderen Seite des Flusses, in Kinshasa, der Horrorstadt, in der die Gegensätze zwischen arm und reich, gestern und heute, und, unter der Oberfläche, auch zwischen Weiß und Schwarz, hart aufeinanderprallen. Es gibt keinen Weg zwischen Brazza-ville und Kinshasa — die Flußfähre verkehrt zwar, aber Einheimische dürfen sie nur mit Sonderbewilligung beider Seiten, Weiße ausnahmslos überhaupt nicht benützen. Zeitweise wird die Sperre aufgehoben — die Folge ist meist auch ein sprunghaftes Ansteigen der Einbruchszahlen in Brazzaville, das von der in Zaire verbreiteten Bandenkriminalität bisher völlig verschont blieb.

Uberhaupt ist der Kongo ein Land, in dem die Zeit stehengeblieben, die Gegenwart erst zaghaft ausgebrochen ist. Der Kongo ist erst im Begriff, ein Entwicklungsland zu werden — fast so groß wie die Bundesrepublik Deutschland, hat er kaum mehr als ein Sägewerk, eine Furnier-, eine Zucker- und eine Zementfabrik, eine Schallplatten-und eine Textilfabrik sowie eine kleine Werft.

Die Hauptstadt Brazzaville verfügt an Verbindungen in die Außenwelt über einen Miniflughafen, eine eingeleisige Schmalspurbahn zur Küste, die, einst für 300.000 Tonnen Güter pro Jahr geplant, heute drei Millionen Tonnen befördert, sowie über eine Straße nach Norden und eine nach Westen. Die Straße nach

Norden soll nach 200 Kilometern Asphalt im wahrsten Sinn des Wortes im Sande verlaufen, die Straße nach Westen, in die Städte Dolisie und Pointe Noire (die Hafenstadt des Kongo), geht nach 80 Kilometern Asphalt in eine Mondlandschaft im Kleinformat über, die über Hunderte von Kilometern kaum mehr als 30, stellenweise 40 Stundenkilometer gestattet und von anderen Fahrzeugen als Lastwagen, Landrovern und 2 CVs kaum befahren werden kann. Sie wird einmal pro Jahr geglättet und vom Tropenregen (der Kongo hat rund neun Monate Regenzeit und drei Monate Trockenzeit pro Jahr) alsbald wieder zerfurcht. Der Kongo ist demnach ein Land ohne Infrastrukturen, es gibt beispielsweise keine einzige Tageszeitung — es wäre unmöglich, sie im Land zu verbreiten. Es gibt außerhalb der Großstädte so gut wie keine Postverbindungen, in weiten Teilen des Kongo werden Briefe so lange von Hand zu Hand weitergereicht, bis sie in der des Empfängers landen. Es gibt ein Fernsehen, das, vor der Machtübernahme der Linken installiert, nur in Brazzaville empfangen werden kann, es gibt ein katholisches Wochenblatt mit 15.000 und eine Parteizeitung mit 5000 Stück Auflage (ebenfalls wöchentlich) — und neuerdings ein landwirtschaftliches Organ, dessen Verteilung an die Agrarbevölkerung, zehnmal pro Jahr, eine schwierige organisatorische Aufgabe darstellt. Die einzige Verbindung des kongolesischen Landbewohners mit der Außenwelt ist das batteriebetriebene Radio, das es in jedem Dorf gibt. Es bringt täglich lange Durchsagen privater oder halb privater Natur, welche die Post ersetzen.

Die kongolesische Gesellschaft ist, heute noch, eine voll intakte Agrar-gesellschaft, der Kongolese lebt von der Landwirtschaft so gut oder schlecht wie seit Jahrhunderten. Niemand hungert, aber nur die Männer werden qualitativ ausreichend, sprich mit genügend Eiweiß, ernährt, während, wie ebenfalls fast überall in Schwarzafrika, die Frauen die gesamte Feldarbeit verrichten. Ansätze zur Entwicklung städtischer Lebensformen sind ganz, ganz jung, Intellektuelle in zweiter Generation, etwa junge Lehrer, deren Väter schon Lehrer waren, eine Rarität, die gesamte Führungsschicht des Landes, sein Präsident, seine Politiker, seine Akademiker, wurden noch im Dorf geboren. Sie kommen aus einer Gesellschaftsordnung, die zwar Reiche und Arme, Herrschende und Beherrschte, wenn auch nur auf dörflichem Niveau, kennt, aber kaum ein Grundeigentum, und haben, als Politiker, ihre Ausbildung in Moskau oder Peking genossen (sind aber durchwegs mehr nach Peking orientiert).

Doch der Kongo ist ein Land sehr erstaunlicher Widersprüche. Er hat zwar keine Tageszeitung, aber einen für afrikanische Verhältnisse sehr niedrigen Analphabeten-Prozentsatz, und während in Zaire und in den anderen schwarzafrikanischen Staaten (außer Gabun) schätzungsweise 15, maximal 20 Prozent der Kinder Schulunterricht genießen, gehen nicht weniger als 90 Prozent der schulpflichtigen Kongolesen tatsächlich zur Schule. (Dies die Schätzung der im Kongo tätigen französischen Lehrer, die Kongolesen selbst sprechen natürlich vom lückenlosen Schulbesuch.)

Hauptprobleme des Landes sind der Mangel an Infrastrukturen, deren Aufbau nicht zuletzt durch die dünne Besiedelung so teuer wird — die Republik hat schätzungsweise eineinhalb bis zwei Millionen Einwohner, genau weiß es niemand. Dazu kommt, bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, eine Mentalität, die den Erfordernissen moderner Technik und Organisation noch sehr fremd gegenübersteht.

Aber auf der anderen Seite konnte der Kongo nach dem Ende der französischen Kolonialherrschaft (etwa zwei Jahre vor dem Beginn der Wirren im belgischen Kongo) mit französischer Hilfe sein Schulwesen so ausbauen, daß i.lcht nur nahezu jedes Kind zur Schule gehen kann, sondern außerdem seinen gesamten Unterricht in französischer Sprache erhält. Kern Dorf liegt so tief im Regenwald verborgen oder so verlassen in der Savanne, daß dort nicht jeder, außer den Kleinkindern und den Alten, fließend (und einwandfrei!) Französisch spricht.

Die Alphabetisation ist kein Problem im Kongo — die überwiegende Mehrheit kann lesen und schreiben, fast jeder Kongolese zwischen 6 und 25 Jahren. Dafür kennt der Kongo das Problem des sekundären Analphabetismus, an das auch die UNESCO nicht gerne erinnert wird — als Erwachsene leben diese Mensehen mit ihren Kenntnissen in Dörfern, in die sich dann und wann eine Zeitung oder ein Brief verirrt, ohne Bücher, mancher wird kaum je ein beschriebenes Blatt Papier in die Hand nehmen. Entwicklung bedeutet daher für den Kongo nicht zuletzt auch die Aktivierung bereits getätigter, wertvoller Bildungsinvestitionen, die andernfalls verloren wären.

Die Entwicklung des Kongo ist ein gewaltiges technisches, organisatorisches und finanzielles Problem — die Schicht der Kongolesen, die, über die Grundschule hinaus, eine weiterführende Ausbildung genossen haben, ist noch immer so schmal, daß jeder Schritt zur Industrialisierung, selbst wenn er finanziell gesichert werden kann, auf das Problem des qualitativen Personalmangels (bei quantitativer Arbeitslosigkeit in der Stadtbevölkerung) stößt.

Geld ist für den Kongo heute leichter zu beschaffen als Know-how — freilich oft nur um den Preis des Raubbaues an seinen Naturschätzen, sprich am Holz. Die primären Regenwälder des Kongo ziehen sich langsam, aber sicher von den Verkehrsverbindungen zurück: 30, 40 Kilometer neben Straßen und' Flußläufen sind die alten, starken Edelholzstämme längst ausgeschlagen, die Prospektoren dringen immer tiefer auf der Suche nach Edelholz in die Primärwälder vor. Dabei zählt aber der Kongo zu jenen ganz wenigen schwarzafrikanischen Staaten, in denen die berüchtigte Verschwendungssucht der jungen Staaten unbekannt ist. Kongolesische Regierungsbüros sind einfach bis schäbig ausgestattet, die Räume der den Ministern übergeordneten Parteifunktionäre noch um eine Spur spartanischer. Je höher ein kongolesischer Politiker steigt, desto stärker fühlt er die kritischen Blicke im Nacken — sein Auto ist bestenfalls gehobene Mittelklasse, ebenso sein Haus.

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