6864950-1977_51_08.jpg
Digital In Arbeit

Afrikanische Großmacht im Zeichen des,niedrigeren Profils4

Werbung
Werbung
Werbung

Gäbe es eine schwarze Liste der OPEC-Länder, in der das Chaos ihrer Hauptstädte gebrandmarkt würde, stünde Lagos zweifellos obenan. Ja, man ist versucht, diese Drei- und Vier-Millionen-Stadt am Golf von Guinea auch in einer diesbezüglichen Weltskala auf Platz Nummer Eins zu setzen. Und dies nicht nur deshalb, weil die Telefone seit Monaten nicht funktionieren, der Strom immer wieder ausfällt, die besseren Hotels auf Wochen ausgebucht sind und der Verkehr eine Lebensversicherung dringlicher denn je erscheinen läßt. Diese Symptome finden sich auch anderswo. Aber hier ist alles geballt vorhanden, hineingepreßt in eine Insel (Lagos Island), die mit dem sumpfigen Festland nur durch zwei Brücken verbunden ist, überwölbt von einem bleiernschwülen Himmel, aus dem zur Zeit immer wieder schwere Regengüsse herunterprasseln und jeden Fußweg in ein Weitsprung-Areal zwischen Tümpeln verwandeln. Wer diesem Abenteuer durch Taxi oder Bus zu entweichen versucht, benötigt

erischem Geschick, englischen oder pantomimischen Verständigungs-Fähigkeiten vor allem eine Riesenportion Geduld: so dauert etwa der vier Kilometer lange Weg vom Hauptbahnhof zur Zentralbank geschlagene drei Stunden.

Seit dem Biafra-Krieg hat das volkreichste Land Afrikas durch die sprunghafte Entwicklung der Erdölproduktion - sie wuchs zwischen 1969 und 1976 fast um das Vierfache - und der Erdölpreise einen Boom mit allen Licht- und Schattenseiten erlebt. Der imbestreitbaren Erweiterung der industriellen feasis, den Fortschritten in der Schulbildung, der besseren Lebenshaltung einer Ober- und Mittelschicht stehen Engpässe in der Infrastruktur, im Wohnungsbau und in der Landwirtschaft gegenüber, die durch die hohe Inflation - 1975 fast 40 Prozent, 1976 runde 30 Prozent und jetzt noch immer gute 20 Prozent - merklich verschärft wurden.

Daß die Einkommen der breiten Bevölkerung diesen Preisen nicht nach- kommen, fällt jedem Besucher ins

Auge. Wer sich dem - zeitlichen - Risiko einer Bahnfahrt unterzieht, der sieht auf einer 17 Kilometer langen Strecke vom Hauptbahnhof bis in die Nähe des Flughafens ein eintöniges Bild: einen Bahndamm voll von Abfällen und dahinter, Gasse um Gasse, armselige, übervölkerte Wellblech- und Bretterbuden.

Noch immer sterben in Nigeria fast die Hälfte aller Kinder im Säuglingsalter; die gesetzlich erlaubte Polygamie trägt ein übriges dazu bei, daß niemand recht weiß, wie viele Einwohner Nigeria tatsächlich hat. Die letzte Volkszählung war wegen zu großer Unstimmigkeiten wertlos und so schwanken die Schätzungen zwischen 60 und 75 Millionen Menschen. Wie in anderen Entwicklungsländern, so ist auch hier die Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte ein großes Problem. Von 71 Millionen Hektar potentieller Agrarfläche, werden weniger als die Hälfte tatsächlich genutzt.

Bürokratie und Korruption sind zwei weitere Stichworte, von denen die jetzige Situation gekennzeich

und wohl auch noch weiter gekennzeichnet sein wird. Die Yoruba, die in der Bundeshauptstadt den Ton angeben, sind in erster Linie Händler. Als solche legen sie Marktpreise fest, die sich von den offiziellen Limits wesentlich unterscheiden. Auch im internationalen Geschäft gelten Aufpreise für „Gleitöl“ von bis zu 20 Prozent keineswegs als Seltenheit. In Amtsstuben versetzt, kennen die Einheimischen zwar den Wert der eigenen Information, kümmern sich jedoch wenig um die Aufgabe des Nachbarn. Die Folge dieses Mangels an Koordination und Zusammenarbeit ist eine heillose Aufsplitterung von Kompetenzen, die jeden Behördengang zur Odyssee werden läßt.

Sich selbst charakterisieren die Nigerianer als kritisch, freiheitsliebend und „mit einer in der Welt wohl einmaligen Liebe zum Luxus“ gesegnet. Das erstere erschließt sich bei der Lektüre der überraschend vielseitigen Tagespresse. Obwohl sich der größte Zeitungsverlag zu 60 Prozent in staatlichem Besitz befindet, sind in seinen verschiedenen Titelblättern oft erstaunlich non-konformistische Aussagen zu lesen. Und die bezeichnenderweise in der westlichen Provinzstadt Ibadan erscheinende oppositionelle „Nigerian Tribüne“ zeigt des öfteren, mit welch wacher Intelligehz Mißstände angeprangert werden. Was die

„Liebe zum Luxus“ anbelangt, so ist diese allerdings noch augenfälliger. So etwa, Wenn ein Arbeiter im feingestärkten und gebügelten Blümchenanzug am Preßluftbohrer steht oder wenn in einem verrosteten und zerbeulten Lastwagen der Chauffeur mit Grandezza ein weißes durchbrochenes Spitzengewand trägt, das von der europäischen Damenwelt mit Erfolg auf einem Ball vorgeführt werden könnte.

Nicht umsonst hat deshalb das Militärregime großzylindrige Wagen, Champagner und Spitzen mit einem Importbann belegt. Unter dem Schlagwort „lower profil“ ist eine Kampagne angelaufen, die dem letzten Einwohner klar machen soll, daß auch in Nigeria die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Anläßlich der afrikanischen Kulturtage erschien Staatschef Obasanjo im Autobus am Ort des Geschehens; am Nationalfeiertag benützte er demonstrativ einen Peugeot 504, was zur Folge hatte, daß alle großen Staatskutschen abgeschafft und im Staatsdienst nur noch Mittelklassewagen gefahren werden. Peugeot- Nigeria - ein mehrheitlich staatseigenes Montagewerk - hat nun auch langfristig volle Auftragsbücher. Trotz wieder steigender Erdöleinnahmen, die mittlerweile 90 Prozent der Exporterlöse und 45 Prozent des Nationaleinkommens erbringen, hat Nigeria zur Zeit mit wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Boom bei den Importen und das Absinken der traditionellen Exporte, wie Erdnüsse, Kakao, Gummi, Baumwolle, Zinn, Hölzer und Palmöl haben zu jäh schrumpfenden Devisenreserven geführt. Scharfe Devisenkontrollen vermochten den Verfall nicht entscheidend aufzuhalten. Probleme der Lebenshaltung, des Wohnungs- und Sozialwesens lassen Zweifel aufkom- men, ob die bisherigen - auf Industrie und Infrastruktur ausgerichteten - Prioritäten richtig dosiert waren.

Es läßt sich aber auch nicht übersehen, daß wohl jede Planung angesichts dieser explosionsartigen Entwicklung, die manche buchstäblich aus dem Busch in einen hochtechnisierten Industriebetrieb katapultierte, überfordert gewesen wäre. Und es gibt langjährige Beobachter der nigerianischen Szene, die der jetzigen Regierung bescheinigen, daß sie sich insgesamt pragmatisch und realistisch verhalten habe. 1

Der jetzige Staatschef, Generalmajor Obasanjo, der 1976 als ziemlich gesichtsloser „Vize“ dem ermordeten General Murtala Mohammed nachfolgte, besitzt keine große Ausstrahlungskraft Er wirkt eher wie ein knöcherner Oberlehrer, der den Seinen zwar nicht Algebra, wohl aber das Einmaleins immer wieder einbleut. Die Nummer Zwei — der aus dem Norden stammende Generalstabschef Yar’ Adoua - scheint gewandter und intellektuell überlegen zu sein. Aber es bestehen kaum Zweifel daran, daß Obasanjo mit seinen Eigenschaften besser dazu geeignet ist, den bunten Vielvölkerstaat - man spricht von 220 ethnischen Gruppen, unter denen die Yoruba im Westen, die Ibo im Osten und die Haussa im Norden die größten Einheiten büden - von der Militärdiktatur in die Demokratie zu lenken. Bereits sind Gewerkschaften zugelassen; Parteien sollen im nächsten Jahr neu formiert und 1979 sollen Wahlen im Zeichen der neuen Verfassung statt- finden. Wenn nun die verfassungsgebende Versammlung neu Zusammentritt, lastet auf ihr eine große Verantwortung. Insbesondere wird es darum gehen, ob das britische Modell, das hier schon einmal bitteren Schiffbruch erlitten hat, wieder erstehen soll, oder ob das US-Modell einer Präsidialdemokratie, das der Legislative eine starke eigenständige Exekutive gegenüberstellt, obsiegen wird. Angesichts der jetzt 19 Bundesstaaten, in denen Etatismus stärker ausgeprägt ist als das föderative Bewußtsein, scheint die letztere Lösung die bessere zu sein. Aber aüch in diesem Falle bleibt als großes Fragezeichen stehen, ob etwa ein Yoruba-Präsident ohne den straffen Militärapparat im Rücken die Spannung zum islamischen Norden, zu den rührigen Ibos mit ihrem Reichtum an Bodenschätzen und unternehmerischer Initiative überwinden kann. Falls es schiefgeht - so meinen viele - wird eben eine neue Militärdiktatur kommen und die Stabilität wieder mit dem Maschinengewehr garantieren.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung