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Bibel und Karl Marx in Belgisch-Kongo

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In der Ende November 1959 veröffentlichten Enzyklika „Princeps Pastorum“ warnt Papst Johannes XXIII.: „Viele unserer Missionsgebiete machen jetzt eine Phase sozialer, wirtschaftlicher und politischer Entwicklung durch, die für ihre Zr';unft bedeutsam sein wird. Die Katholiken dürfen diese Probleme nicht ignorieren und auch nicht darauf warten, daß sich annehmbare Lösungen von selbst ergeben.“ — Gleichzeitig meldete der Vatikan die erfolgte Umwandlung der bisherigen apostolischen Vikariate des belgischen Kongo in acht ordentliche Kirchenprovinzen und die Ernennung einer entsprechenden Anzahl von Erzbischöfen und Bischöfen, darunter vier Neger.

“Daß dies kein zufälliges Zusammentreffen ist, beweist allein schon die Feststellung Brüssels: „Eine logische Maßnahme, die der belgischen Folitik im Kongo entspricht!“ Denn Belgisch-Kongo steht heute tatsächlich an einem entscheidenden Wendepunkt seiner nur fünfzigjährigen Entwicklungsgeschichte. Das Zeitalter des Paternalismus, der das Riesenreich im Herzen Afrikas bis gestern noch als letzte friedliche Insel im Mahlstrom des erwachten allafrikanischen Nationalismus erscheinen ließ, ist zu Ende. Der schmerzhafte Uebergangsprozeß vom patriarchalischen System in die organisierte Welt der Technik ist in ein akutes Stadium getreten. Der Schwarze, bisher gewohnt, den Weißen als fürsorgenden Vater und Alleinverantwortlichen zu betrachten, sieht sich nun modernen Problemen der Selbsterhaltung und — politisch gesehen — der Selbstbestimmung gegenüber. Und kann damit nicht so leicht fertig werden! Begreiflich. Binnen weniger Jahrzehnte hat der belgische Kongo sämtliche Entwicklungsphasen Europas vom tiefsten Mittelalter bis zur Jetztzeit durchgemacht. Und wie im Mittelalter die Kirche Träger und Garant der herrschenden Gesellschaftsordnung war, ist sie es heute im Kongo: Am Anfang, vor rund 60 Jahren, bedeutete der Kongo zweieinhalb Millionen Quadratkilometer Urwald, Steppe und Busch, bevölkert von „Wilden“. Dann kamen die Weißen. Kaufleute, Missionäre, Techniker und Kolonialbeamte. Ungeheure Bodenschätze wurden entdeckt, ausgebeutet. Es begann das Zeialter des Industriefeudalismus, der großzügigen Erschließung des Landes. Technisch und geistig! Denn mit dem Vormarsch mechanischer Zivilisation drang auch das Christentum in den Urwald ein und entthronte den Medizinmann und die heidnischen Götzen. Es entthronte allerdings auch sehr oft den Häuptling und mit ihm die bestehende Stammesordnung, die durch abstrakte Begriffe und universale Prinzipien des Katholizismus schwer zu ersetzen war. Als ..Zivilisationshilfe“ wirkte somit das Christentum in diesem Anfangsstadium der Entwicklung eher zerstörerisch in bezug auf althergebrachte Ordnung und Macht, auf das magische Weltsystem der Eingeborenen. Ein Vakuum entstand vorübergehend, das die Gefahr der Anarchie in sich baTg. Doch die starke kirchliche Beteiligung am Schulwesen, an Krankenpflege und sozialer Ordnung bannte diese Gefahr. Nicht von ungefähr scharen sich heute Kirchen, Ambulatorien, Schulen, Missionen und deren Fußballplätze um die gewaltigen Industrieanlagen der bedeutendsten Uranerz-, Kobalt-und Kupferminen der Welt, deren Feudalherren dies allerdings als Selbstverständlichkeit betrachten, an welche sie seit zwanzig und mehr Jahren gewohnt sind. Ihnen fehlt ja der menschliche Kontakt mit den Schwarzen, die für sie nur Arbeitspotential sind. Die menschliche Seite des Problems bleibt dem Missionär überlassen: ob im tiefsten Urwald, fern von aller Zivilisation, oder in den künstlich geschaffenen Großstädten und Industriezentren.

Anders denken die^weißen Jlflarjger^er^Asgigr-gebiete Zentralafrikas. „Der -Missionär lehrt die Neger lesen, weil er glaubt, sie nehmen die Bibel zur Hand. Aber sie lesen Karl Marx!“ So lautet ihr oft gehörtes Argument, wenn von der Wirkung christlicher Missionstätigkeit in Afrika die Rede ist. Die Formulierung ist extrem. Sie enthält aber dennoch ein Körnchen Wahrheit. In der Missionsschule liest der Schwarze nicht Karl Marx. Aber Lesenkönnen ist in Afrika ein Bildungsgrad. Ein sehr hoher sogar. Des Lesens und Schreibens kundig sein, hebt über das allgemeine Niveau hinaus. Es bedeutet Ausweitung des Gesichtskreises, ist aber auch anderseits die offene Tür für äußere Einflüsse. Woher sie auch kommen mögen! Und diese Einflüsse kommen seit Jahren von allen Seiten: über Abessinien und den Sudan aus Moskau. Propagiert von arabisier-ten Straßenhändlern islamischen Glaubens in weißem Burnus, Nylonsocken, Lederpantoffeln und kleinem Fez auf dem Schädel. Den weißen Touristen verkaufen sie exotische Souvenirs. Ihren schwarzen Brüdern revolutionäres Ideengut, das auf fruchtbaren Boden fällt, weil darin von gleichen Rechten und Pflichten die Rede ist. Kritiklos akzeptiert die Zuhörerschaft die Parolen. Hat der christliche Missionär seinerzeit in der Schule nicht ganz das gleiche gepredigt? Sind wir nicht vor Gott alle gleich? Auch aus Paris kommen die Einflüsse. Auf dem Umweg über Brazzaville, der französischen Schwesterstadt von Leopoldville jenseits des Kongo, einer theoretischen Grenze, die für Bantuneger aus der Anhängerschaft eines Joseph Kasavubu ganz einfach nicht existiert. Brazzaville, die Hauptstadt Französisch-Aequatorialafrikas, gehört zur Union Francaise, dem Gebilde de Gaulles zu Erhaltung der letzten Reste französischen Kolonialbesitzes. Freiheitliche Ideen herrschen dort: Liberte, Ega-lite, Fraternite. Für den Schwarzen berauschende Schlagworte, die auch im Chikago der Tropen, Leopoldville, ihr nachhaltiges Echo finden. In wieweit es sich hier vielleicht auch um das belgische Projekt des Riesenkraftwerkes in Inga am unteren Kongo und den Konkurrenzvorschlag der Franzosen zur Errichtung eines ähnlichen Kraftwerkes auf französischem Kolonialgebiet handelt, bleibt dahingestellt. Wirtschaftspolitische Betrachtungen stehen mit Kulturpolitik meist nur in indirektem Zusammenhang. Auch aus Accra, der Hauptstadt von Ghana, ertönt Sirenengesang: Hat der allafrikanische Nationalkongreß nicht beschlossen, daß alle bisher noch unter europäischer Kolonialverwaltung stehenden Gebiete Afrikas bis 1. Jänner 1960 ihre Selbständigkeit erreicht haben müssen?! Kasavubu, dynamisch-brutaler Leader der „ABAKO“ in Leopoldville und Lumumba, extremistischer Führer der Nationalen Unabhängigkeitsbewegung in Stanleyville, sind dafür. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ihre Kampfansage an die Weißen ist eindeutig. Bei den blutigen Unruhen, die Kasavubu im Frühjahr 1959 in Leopoldville angezettelt hat, ging auch ein Missionsgebäude in Flammen auf. Also Kampfansage auch an die katholische Kirche? Ja und nein. Den schwarzen Volkstribunen am Kongo fehlt es derzeit noch an subtilem Unterscheidungsvermögen. Es fehlt ihnen auch an geschulten Teams intelligenter Spezialisten, die sie vor grundlegenden Irrtümern bewahren könnten. Es fehlt überhaupt an Kadern für die bevorstehende Selbstverwaltung. Ein Versäumnis, für welches vor allem die zivile Administration des Kongo verantwortlich zeichnen muß, da sie es bisher nicht für nötig befunden hatte, über die friedliche Gegenwart hinaus an die Zukunft zu denken. So steht sie auch der derzeitigen Lage ziemlich hilflos gegenüber. König Baudouin mußte seine persönliche Popularität im Kongo zum Einsatz bringen. Und so erlangt der Beschluß des Vatikans, im Kongo ordentliche Kirchenprovinzen zu errichten, seine tatsächliche Bedeutung: Eine an sich bereits seit Jahrzehnten vom Schwarzen anerkannte Hierarchie schaltet sich im kritischen Moment ein, da die zivile Hierarchie mangels eingeborener Kader zu versagen droht und sich Demagogen der kritiklosen Massen in Urwald und Großstadt bemächtigen wollen.

Priester waren es, die im Zeitalter des Indu-striefeudalismus im Kongo dem Schwarzen den Persönlichkeitsgedanken und die brüderliche Gleichheitsidee vermittelt haben. Halbverdaut sind diese Begriffe gleichbedeutend mit Dynamit! Friester haben sich in Leopoldville an der Gründung det ersten Schwarzen •Gewerkschäfteri^ beteiligt. Unter dem Gesichtspunkt christlicher Menschlichkeit. Aber in der Mentalität des Negers ist der Gedanke des Syndikalismus sinnlos. Die sippenverhaftete Denkweise des Eingeborenen anerkennt nur „gegenseitige Unterstützung“. Nicht aber den Begriff „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. Sie anerkennt väterliche Betreuung. Nicht aber Vorherrschaft. Und dennoch haben die Missionäre im Kongo ganze Arbeit geleistet: Mit väterlicher Hand und Feingefühl führten sie den „Wilden“ aus der magischen Welt des Me~ dizinmannes, der allerdings auch heute noch unter der zivilisierten Oberfläche spukt, an die Schwelle der organisierten modernen Welt, in der Lohntüte, Fahrrad, Maschine, Fabrik, Kino, Coca-Cola wie üblich an erster Stelle stehen. Und Iwute, da diese Welt im allgemeinen Aufruhr nationaler Unabhängigkeitsbestrebungen zu einem anarchistisch-brodelnden Vulkan zu werden droht, ist es wieder die Kirche, die dank ihrer organisierten Autorität zu Hilfe kommt.

„Wir wollen einen demokratischen und neutralen Staat!“ erklärte kürzlich in Leopoldville der schwarze Führer der ..Nationalistisch-Marxistischen Partei“ dem Reporter der belgischen Zeitung „Le Soir“. Neutral? Ja! Frei von jedem Einfluß der Kirche! Wir wollen Gewissensfreiheit. Warum wurde der Kibangismus verboten? Nur aus Gründen religiöser Konkurrenz! Warum hat der Vatikan soeben den Kongo mit schwärzen Bischöfen angefüllt? Um besser gegen den Kibangismus kämpfen zu können! — Was ist der Kibangismus? — Eine für Bantuneger typische Geisteshaltung, aber auch ein Heilmittel gegen soziales Elend und Triebkraft für eine wirkliche Gesellschaftsordnung der Eingeborenen. — Aus Furcht vor einer Theokratie will also euer neuer Kongostaat in eine andere Theokratie zurückfallen? — Nein! Wir sind Spi-ritualisten und antiklerikal. Keinerlei Eingriff einer Kirche in die zivile Macht! — Und, was halten Sie vom derzeitigen eingeborenen Klerus? Verräter? Kollaborateure? ... O nein. Übrigens sind viele davon Nationalisten... — Hat man Ihnen schon einmal gesagt, daß Politik die Kunst des Möglichen ist? — Nein. - Wie wollen Sie also von Leuten, denen Sie versprechen, ihnen nichts zu belassen, alles verlangen? - Die Lösung des Problems bleibt weiterhin offen.

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