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Nationalismus ohne Nation

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Die Kongokrise dauert nun schon länger als neun Monate. Seit dem Ausbruch der Meuterei der „Force Publique” von Thysville, die nach Absetzung der europäischen Offiziere auf zahlreiche Garnisonen des Landes Übergriff und eine Massenflucht der europäischen Bevölkerung, das Eingreifen belgischer Truppen und die Sezession Katangas nach sich zog, ist das Land trotz der Intervention der UNO nicht mehr zur Ruhe gekommen. Die Einrichtungen des modernen Staates in jenem weiten, 2,350.000 Quadratkilometer großen Raum sind — sofern sie vorhanden waren — weitgehend zusammengebrochen und die bestehenden organisierten Kräfte stehen einander feindlich gegenüber. Lumumba, der durch seine politische Aktion gegen die vormalige Kolonialmacht den Apparat des Staates zertrümmert hat, den er regieren wollte, ist schließlich selbst ein Opfer der Geister geworden, die er entfesseln half. Auch dies gehört zur Logik Afrikas und hat innerhalb des Kongo selbst wesentlich geringere Bedeutung, als es der internationale Schallver-

stärker des Nachrichtenapparates vermuten läßt, über den heute Vorgänge im Ko go in die Welt übertragen werden.

Im Bewußtsein der Welt ist wenig verankert, daß die nationalen Grundlagen der neuen Staaten im schwarzen Afrika fern davon sind, auch nur einigermaßen homogen zu sein. Keiner dieser Staaten ist ein Nationalstaat; alle umfassen auf ihrem Staatsgebiet eine größere Anzahl voneinander stark verschiedener Völker. Der Sprachgebrauch, nach dem man oft von verschiedenen „Stämmen” spricht, verführt dazu, die bestehenden Ünter:’ schiede zu unterschätzen. Diese mögen hinsichtlich der autochthonen Kultur im einzelnen größer oder geringer sein. Handfest ist die Verschiedenheit der Muttersprache, infolge der bereits die regionale Verständigung auf weiter verbreitete Verkehrssprachen angewiesen ist. Auf nationaler Ebene kann in der Regel nur die Sprache der vormaligen Kolonialmacht die Verständigung jenes Teiles der Bewohner sichern, der sie verlernt hat.

Die völkische Zersplitterung hat aber den Afrikaner auch zu einer gewissen Toleranz prädisponiert, die aus der Notwendigkeit des Zusammenlebens der verschiedenen Gruppen erwächst. Für die politische Organisation der Afrikaner seit dem zweiten Weltkrieg ist geradezu typisch, daß sie den „Tribalismus” verneint und sich auf ein größeres Ganzes ausrichtet. Dies läßt sich vielleicht besser als afrikanischer Patriotismus mit dem Ziel einer Lebensgemeinschaft bezeichnen denn als „Nationalismus”; der letztere ist, wo er wirklich existiert, naturgemäß „panafrikanisch” und damit stark antieuropäisch orientiert. Ohne den erste- ren aber kann er nichts Positives vollbringen.

Zentralistische Mehrheit ohne Zentrum

Im Kongo war die Organisation der Afrikaner in Formen des modernen politischen Lebens bis in die jüngste Zeit unterblieben. Als Ende 1958 politische Parteien zugelassen wurden, übernahmen meist einfach die bestehenden Volksvereine und landsmannschaftlichen Verbände diese Rolle. Dies ist zweifellos als eine der Hauptursachen der Kongokrise anzusehen. Die neue Organisation, die neben die überkommenen Einrichtungen der sozialen Ordnung trat, verband wohl zahlreiche Gruppen von kleinerem oder größerem Umfang, schuf aber kein einigendes Band zwischen ihnen, sondern unterstrich vielfach die Gegensätze. Zum Unterschied vom französischen und britischen Afrika verlief der Prozeß der politischen Organisation nicht in Richtung auf die Schaltung einer Einheit, sondern der Aufspaltung.

Bei den Wahlen im Mai 1960, die der Unabhängigkeitserklärung des Kongo vorangingen, ist dieser Vorgang handgreiflich und zahlenmäßig faßbar geworden. Der Kongo zählt 112 Sprachen (mit 455 Dialekten). Will man den Charakter der inneren Vorgänge im Kongo verstehen, muß man die dortigen „Parteien” mit ihren völkischen Grundlagen in Beziehung setzen. In das Kongoparlament wurden im ganzen 137 Abgeordnete, das ist je einer auf 100.000 Köpfe der Wohnbevölkerung, gewählt. Dabei hatten nur zwei Parteien in fünf der sechs Kongoprovinzen — keine davon in Katanga — Wahlerfolge: das „Mouvement National Gongolais” Lumumbas errang 35, die von ihm als „belgienfreundlich” bekämpfte gemäßigte „Parti National du Progres” 22 Mandate. Dagegen entfielen achtzig Mandate auf 17 weitere, lediglich in einer Provinz verankerte Parteien, die sich unschwer auf Volksgruppen und Stammesbünde zurückführen lassen.

Parteihader zwischen einzelnen Provinzen

Lumumbas Partei hatte als einzige ein zentralistisches Programm. Sie errang dessen eigenem Volk, den Bate- tela im Nordostkassai, sechs Mandate, hat aber — nicht ohne finanzielle Hilfe von außen — eine wirksame Organisation sowohl im benachbarten Maniema im Süden von Kivu (gleichfalls sechs Mandate), wie vor allem in der ganzen Ostprovinz aufbauen können, wo sie mit 21 Mandaten die überwältigende Mehrheit gewann. Demgegenüber hat die „Fortschrittspartei” in aller} fünf Provinzen eine Anzahl von Sitzen erlangen können, die auf lokalen Gruppierungen beruhten, aber nirgends wirklich ins Gewicht fielen.

Das Inventar der übrigen, größeren Parteien deckt sich durchweg mit bestimmten Volksgruppen. In Leopoldville sind dies die „Abako” der B a- k o n g o unter Kasavubu im Niederkongogebiet (12) und die „Afrikanische Solidaritätspartei” der B a y- aka, Bapende und B a t e k e des Kwango-Kwilu-Gebietes unter dem gegenwärtig in Stanleyville in der Fremde residierenden Gizenga (13). In der Äquatorprovinz die „Partei der nationalen afrikanischen Einheit” der B a n g a 1 a unter Bolikango (7), neben der auch die von Bomboko geführte „Union der Mongo” (1) durch diesen Bedeutung erlangte. Der weitaus größere Teil der Mongo lebt aber in der Ostprovinz. In Kassai wurde die mit Lumumba konkurrierende „Nationalbewegung” der Kassai- B a 1 u b a unter Kalonji (8) von erste- rem durch das Bündnis mit zwei anderen Gruppen majorisiert: der „Nationalen Kongounion” der Bena L u 1 u a und der Vereinigung der kleineren Kassaistämme (je 3). In Kivu erzielte das auf die B a 1 e g a, B a- komo und Baschi gestützte „Zentrum der afrikanischen Neugruppierung” unter Kaschamura (io) die Mehrheit. Es verbündete sich auf Regierungsebene gleichfalls mit Lumumba, während sich in der Provinzregierung bis gegen Ende 1960 gemäßigte Kräfte am Ruder halten konnten. In Katanga endlich stehen die B e m b a, Lundą und Sanga des Südens im Lager der sezessionisti- schen „Konföderation der Stammesverbände Katangas” (Conakat) unter Tschombe (8). Diese Völker, deren Mehrheit übrigens in Rhodesien und Angola wohnt, betrachten die nach dem Süden von Katanga eingewanderten, im Norden ansässigen K a- tanga-Baluba und andere Zuwanderer aus dem Norden als Eindringlinge. Die Balubakat unter

Sendwe (7) schloß daher anfangs ein Bündnis mit Lumumba gegen die Conakat, scheint aber heute mehr eine selbständige Haltung einzunehmen.

Der Gruppierung der Kongoparteien in „Lumumbisten” oder „Antilumum- bisten” wohnt so tatsächlich nichts Zwingendes inne. Zweifellos wären noch eine ganze Reihe anderer Kombinationen denkbar. Die Voraussetzungen für eine Einigung aller dieser Gruppen scheinen allerdings durch die Geschehnisse der letzten Monate weiter vermindert, nachdem das belgische Konzept gescheitert war, den Einheitsstaat Kongo mit Hilfe seines einzigen Anhängers — ihres Gegners Lumumba — zu verwirklichen.

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