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Der Frühling wird heiß, heiß, heiß

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Am 2. April 1973 demonstrierten mehr als 200.000 Mittelschüler in den Pariser Straßen. Am 9. April waren es nur noch 50.000, die zwischen den Plätzen „Nation“ und „Republiciue“ den Behörden ihren Willen kundgaben, das Gesetz Debre nicht zu akzeptieren. Durch diese Verordnung — sie trägt übrigens fälschlicherweise den Namen des ehemaligen Armeeministers Debre — wird den Mittelschülern das Recht versagt, die Militärpflicht wegen des Studiums oder einer sonstigen Ausbildung auf später zu verschieben. Gemeinsam mit ihren Kameradinnen versprachen sie der Regierung und der „Bourgeoise“'; also in der Regel ihren eigenen Eltern, einen heißen, einen sehr heißen Frühling. Gleichzeitig machten sich soziale Spannungen bei Renault und Peugeot bemerkbar. Nun gilt der verstaatlichte Automobilkonzern Renault als das soziale Barometer Frankreichs. Große Streikwellen und beachtliche Sozialreformen strahlten immer von Renault auf die anderen Industrien der Nation aus.

Die Situation vor und nach Ostern 1973 zeigt viele Analogien zum Beginn der Staatskrise von 1968. Auch damals fingen die Unruhen auf den Hochschulen an. Der Funke wurde durch die kontestierenden Studenten weitergetragen und die ersten Arbeitsniederlegungen fanden in den Zweigwerken von Renault statt. Damals wie heute waren die Linksparteien und die Gewerkschaften über die Initiative der jugendlichen Extremisten wenig erfreut. Lediglich die exchristliche, zweitstärkste Arbeitnehmerorganisation, die CFDT, und die Splitterpartei der revolutionären Sozialisten, die PSUM, unterstützten die Studenten und Arbeiter. Erst als die Kommunisten und die CGT wegen des Drucks von der Basis her nicht mehr ein und aus wußten, schlössen sie sich höchst widerwillig der Bewegung an. 1968 und 1973 -mobilisierten die kleinen Gruppen der Linksextremisten die jugendlichen Massen, holten sie auf die Straßen und gaben ihnen eine politische Zielsetzung.

Ein Unterschied besteht allerdings zwischen den beiden Ereignissen: Im Mai 1968 reichte eine bunte Palette der extremen Linken von den Maoisten über die Trotzkisten bis zu den Anarchisten. Bei den Aufmärschen im April 1973 wurden zwar einige schwarze Fahnen der Anarchie schüchtern mitgeführt, aber das Verhalten der Jungen und Mädchen, die Inschriften der Transparente und die Slogans ließen darauf schließen, daß nur der Trotzkismus ein Echo fand und eine organisatorische Macht darstellte. Die hervorragende Regie der Demonstrationen, die beachtliche Disziplin und das Funktionieren der eigenen Ordnungstrappen beweisen die Renaissance einer Theorie, die im Gegensatz zum orthodoxen Kommunismus einen tiefen Niederschlag in der Jugend hat. Es ist selbstverständlich, daß die offizielle kommunistische Partei ängstlich die Grenzen zum Trotzkismus zieht, zu keinem ideologischen Kompromiß bereit ist und immer noch den Erzfeind ihrer eigenen Konzepte im großen Gegenspieler von Josef Stalin sieht.

Der Anarchismus zeigt in Frankreich folkloristische Züge und kann den engen Bereich des Studentenviertels Quartier Latin kaum über-

springen. Alte Veteranen beschwören noch die Manen Bakunins, und spanische Exilierte träumen von den heroischen Tagen ihres Bürgerkriegs. Der Nachwuchs ist jedoch äußerst schwach. Ein Anarcho-Syndikalismus, wie auf der iberischen Halbinsel und in Italien, konnte in Frankreich nie Fuß fassen. In der Geschichte der französischen sozialistischen Bewegungen tauchen international bekannte Namen des Anarchismus auf — wir denken an Prou-dhon —, aber letzten Endes sind dies Einzelerscheinungen. Zu Beginn des Jahrhunderts geisterte die Bonnot-Bande herum, deren Ähnlichkeit mit der Baader-Meinhof-Gruppe verblüffend ist. Sie schlitterte vom politischen Anarchismus in das Verbrechen ab und gibt nun Stoff für Filmdrehbücher zweiter Qualität und für Fernsehsendungen. In Südfrankreich errichteten spanische Emigranten ein Zentrum des Weltanarchismus. Ihre Anstrengungen bewegten sich allerdings in bescheidenen Grenzen.

Zwischen 1963 und 1968 bildete der Maoismus eigene Organisationen und zog zahlreiche junge katholische Intellektuelle an. Gelegentlich entstand eine marxistisch-leninistische Partei, die von der Regierung se'ir schnell wieder lahmgelegt wurde, obwohl sie im Untergrund weiterhin versuchte, die Strukturen zu wahren und neue Mitglieder anzuwerben, gehört das Phänomen des Maoismus bereits der Geschichte an. Viele Jungen und Mädchen begeisterten sich an der unklaren Heilsbotschaft. Sie. revoltierten gegen eine Gesellschaftsordnung, die nicht in der Lage war, ihnen neue Horizonte zu bieten. Dieser Messianismus war zeitweise sehr ausgeprägt. Geistesgeschichtliche Wurzeln führen dabei auf die Utopien des frühen und hohen Mittelalters zurück. Man suchte Leitbilder, Philosophien, und im letzten escha-tologische Ziele. Der Maoismus versprach ein himmlisches Königreich, engagierte sich für eine reine Mystik und lehnte den kommunistischen Reformismus entschieden ab. Indem er auf marginale Elemente wie auf Immigranten oder Gefangene hinwies, sah er sich selbst als Werkzeug einiger personifizierter Erlöser. Der Philosoph Jean-Paul Sartre und seine Gefährtin Simone de Beauvoir bemühten sich, diese Tendenzen bis in unsere Tage herüberzuretten. Die Spontaneität ist jedoch verflogen und die Gruppen lösten sich auf. Die Normalisierung der chinesischen Außenpolitik raubte auch den wenigen französischen Maoisten die Hoffnung auf ein Zentrum der Weltrevolution in Peking.

Also bleiben die kommunistische Liga — wie sich der französische Zweig der trotzkistischen Internationale nennt — und einige andere Kreise, die sich im Generellen zum Trotzkismus bekennen, sich aber vor 1963 von der zentralen Organisation trennten. Der kommunistischen Liga gelang es nun zum erstenmal, fast alle Anhänger zu sammeln, Kader zu bilden und als Partei aufzutreten. Nach dem 7. Februar 1973 konnte man mit Überraschung feststellen, daß die Trotzkisten den riesigen Saal im Sportpalast besser füllten als Lecanuet und Servan-Schreiber einige Tage zuvor. 4000 Jugendliche — viele allerdings noch nicht im wahlberechtigten Alter — jubelten dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten, dem 31jährigen Alain Krivine zu. Außerdem hatten die Trotzkisten der französischen Polizei ein Schnippchen geschlagen. Dem Chefideologen dieser Bewegung, dem Nationalökonomeh Ernest Mandel, ist der Aufenthalt in Frankreich, der Schweiz, der Bundesrepublik und den USA verboten. Er thronte jedoch lächelnd auf der Tribüne und interpretierte die Linie der IV. Internationale.

Bei den Legislativwahlen im März 1973 erhielten die Trotzkisten 100.000 der abgegebenen Stimmen, also 2 Prozent. Sie erreichten bemerkenswerte Einbrüche in das Corps der Lehrer, Professoren und sonstigen Unterrichtspersonen, und sje beherrschen zium großen Teil die Studentengewerkschaft UNEF, die im Mai/ Juni 1968 eine so bedeutende Rolle gespielt hat. Wenn sie sich auch als die patentierten Vertreter der Arbeiterklasse ausgeben, können sie jedoch in den Betrieben relativ wenig Stützpunkte verzeichnen. Die kommunistische Partei und ihre Gewerkschaft CGT versuchen verzweifelt, die Trotzkisten von der Arbeiterklasse fernzuhalten. Ohne daß es Beweise dafür gibt, behaupten die Trotzkisten aber, unter den Lehrlingen ein gewisses Echo gefunden zu haben. Die Repräsentanten der IV. Internationale verteidigen überdies die Interessen der Fremdarbeiter mit viel Mut und Umsicht und erfreuen sich daher in diesem Milieu großer Sympathien.

Ihr Programm wurde zwar modernisiert, aber im Grundgedanken basiert es weiterhin auf den Thesen von Leo Trotzki: die direkte Vertretung der Volksmassen und der Arbeiterklasse durch Sowjets, also durch Räte, indem die indirekte Volksvertretung durch das Parlament ausgeschaltet wird. Die Taktik der Trotzkisten geht dahin, am äußersten linken Flügel Unruhe zu stiften und den bürokratischen Apparat der KPF in Bewegung zu setzen.

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