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Digital In Arbeit

Italiens ewige Streiks

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Wenn von Italien die Rede ist, schütteln seit geraumer Zeit die Leute unwirsch ihre Köpfe und sagen einander: „Ach, diese ewige Streikerei, sie wird das Land am Ende noch zugrunde richten.“ Die Überzeugung ist weit verbreitet, daß die zu Ausständen auffordernden Gewerkschaften die einzige Schuld für die soziale Unrast in Italien trifft. Als ob es nicht tieferliegende Ursachen für diesen Sachverhalt gäbe, die von den Arbeit- nehmerverbändem lediglich ausgenützt, kaum hingegen hervorgerufen werden.

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Wenn von Italien die Rede ist, schütteln seit geraumer Zeit die Leute unwirsch ihre Köpfe und sagen einander: „Ach, diese ewige Streikerei, sie wird das Land am Ende noch zugrunde richten.“ Die Überzeugung ist weit verbreitet, daß die zu Ausständen auffordernden Gewerkschaften die einzige Schuld für die soziale Unrast in Italien trifft. Als ob es nicht tieferliegende Ursachen für diesen Sachverhalt gäbe, die von den Arbeit- nehmerverbändem lediglich ausgenützt, kaum hingegen hervorgerufen werden.

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Wer die Geschichte des italienischen Gewerkschaftswesens überblickt, sieht die drei größten „sindicati“ — CGIL, CISL und UIL — bis 1969 in beträchtlicher Abhängigkeit von der kommunistischen bzw. linkssozialistischen, christlichdemokratischen und sozialdemokratischen Partei. Um allen Widerständen der CONFINDU- STRIA (italienischer Industrieverein) und der Regierung zum Trotz die Gesamtarbeitsverträge zum Vorteil der Arbeiter erneuern zu können, beschlossen die „Drei Großen“ vor zwei Jahren, wenigstens vorübergehend eine taktische Einheitsfront zu beziehen. So kam es denn zum sogenannten heißen Herbst 1969, das heißt, einer sozialen Unrast, die selbst für Europas Streikland Nummer eins außergewöhnlich war. Durch die fortgesetzten Ausstände, die in einzelnen Berufen Monate dauerten, gingen 360 Millionen Arbeitsstunden verloren. Während die politische Rechte in den Gewerkschaften damals die Totengräber der Wirtschaft sah, haben politisch neutrale Beobachter bereits 1969 darauf hingewiesen, daß den Arbeitnehmerverbänden bei den bestehenden Verhältnissen nicht viel anderes als diese „ewige Streikerei“ übrig blieb. Das Kabinett Rumor hatte zwar ein schönes, sozial aufgeschlossenes, ja sogar auf weiten Strecken sozialistisches Regierungsprogramm, doch war es viel zu schwach, um seine Postulate auch gegen die hartnäckigen Widerstände und Selbsthilfeaktionen (Kapitalflucht, Investitionsstop usw.) der Privatwirtschaft durchzusetzen.

Die Linkssozialisten, welche kurz vorher, das heißt im Juli 1969, von den Sozialdemokraten erneut allein gelassen wurden, hatten im Centro- Sinistra-Regierungskurs, bei dem im Grunde abermals die Mitte groß und das Links eher klein geschrieben war, einmal mehr einen schweren Stand. An die Seite der kommunistischen Opposition zu treten, hätte der Logik der Dinge entsprochen, doch widersprach das den persönlichen Interessen vieler Linkssozialisten,

die — einmal an der Macht — nicht mehr so leicht auf deren Vorteile, Einfluß und fette Pfründen für sich und die „amici“ und Verwandten, verzichten wollten. Und so kam es denn seit Mitte 1969 zu drei Regierungskrisen, nicht hingegen zu einem politischen Kurswechsel.

Durch die widerstrebenden Interessen ihrer Beteiligten war die Regierungskoalition zwischen Christlichdemokraten, Sozialdemokraten, Republikanern und Linkssozialisten kaum noch operationsfähig. Im besten Fall wurden faule Kompromisse ausgehandelt, meistens endete der Kampf jedoch im Nichts des Immobilismus, so daß das Ergebnis ein Reagieren statt Regieren war. Geheime Mächte im Hintergrund, die ihrem Wesen nach nicht oder noch nicht als wirkliche Kräfte in Erscheinung treten dürfen — Mafia, KPI und Vatikan — stellten die wahren Drahtzieher dar und die drei großen Gewerkschaften spielten in ihrem Bereich, manchmal auch außerhalb davon, die Schiedsrichter. Wer einmal erkannt hat, daß es der Natur der Institutionen entspricht, ein Machtvakuum auszufüllen, wird es nicht mehr erstaunlich finden, daß die italienischen Gewerkschaften die Ohnmacht der Regierung und der hinter ihr stehenden Regierungs

Parteien weidlich ausnützten und zur Durchsetzung ihrer Ziele die Arbeiter, auch Angestellte, Beamte, sogar Hoteliers, Advokaten, Richter,

kurzum alle Berufstätigen zu immer neuen Streiks aufforderten. Gelegentlich blieb ihnen wirklich nichts anderes übrig, weil die Unzufriedenheit und auch die Lust, ihr durch Protestkundgebungen mit lateinischer Vehemenz und Eloquenz Luft zu machen, groß waren und linksextreme außerparlamentarische

Gruppen maoistischer und anarchistischer Inspiration im Wettstreit um die Popularität der nie Zufriedenen den Gewerkschaften wiederholt den Platz ‘an der Sonne streitig machten. Es darf eben nicht übersehen werden, daß nur 10 bis 15 Prozent der italienischen Arbeiter gewerkschaftlich organisiert sind.

Angesichts der mangelnden sozialen Aufgeschlossenheit der meisten italienischen Unternehmer, überhaupt der Klasse der Besitzenden, muß man sich überdies fragen, ob den

Gewerkschaften nach wie vor ein anderes Mittel als die ewige Streikerei zur Verfügung steht, um in den Verhandlungen Vorteile für ihre Schutzbefohlenen durchzusetzen.

Der für 1. Jänner 1972 geplante effektive Zusammenschluß der drei Gewerkschaften könnte der KPI zugute kommen, die ihre Bindung zur CGIL nur der Form, wohl nicht der Sache nach löste und als große geschlossene Partei hinter der größten Gewerkschaft und dem erstarkten Gewerkschaftswesen schließlich die parlamentarische Demokratie in Italien auf die Knie zwingen, es nach einem langen Vorgeplänkel doch noch zur Regimekrise und zum politischen Kurswechsel, der imbeschränkten Linksöffnung, kommen lassen könnte.

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