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„Die Gefahr, von Eurokommunisten an die Wand gespielt zu werden...“

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Ein Thema, das uns alle angeht: der europäische Kommunismus im allgemeinen und der Eurokommunismus im besonderen. Wir widmen die erste Folge einer Serie darüber einem Theologen und Wissenschafter, der wie kaum ein anderer die philosophischen Grundlagen des Kommunismus kennt: Gustav A. Wetter SJ (Bild), geborener Mödlin-ger, der seit Jahrzehnten in Rom unterrichtet und seit 1970 Professor für marxistische Philosophie und Direktor des Centro Studi Mar-xisti an der Gregoriana ist. Unlängst referierte er bei einer Veranstaltung des Europahauses Salzburg zum Thema „Orthodoxie und Revisionismus im Marxismus“, über das wir hier berichten. In Wien und Salzburg sprach er außerdem über „Marxismus und Religionsfreiheit“. Unser Redaktionsmitglied Burkhard Bischof führte mit Pater Wetter ein Gespräch über den Eurokommunismus und r über Religionsfreiheit im Kommunismus.

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Ein Thema, das uns alle angeht: der europäische Kommunismus im allgemeinen und der Eurokommunismus im besonderen. Wir widmen die erste Folge einer Serie darüber einem Theologen und Wissenschafter, der wie kaum ein anderer die philosophischen Grundlagen des Kommunismus kennt: Gustav A. Wetter SJ (Bild), geborener Mödlin-ger, der seit Jahrzehnten in Rom unterrichtet und seit 1970 Professor für marxistische Philosophie und Direktor des Centro Studi Mar-xisti an der Gregoriana ist. Unlängst referierte er bei einer Veranstaltung des Europahauses Salzburg zum Thema „Orthodoxie und Revisionismus im Marxismus“, über das wir hier berichten. In Wien und Salzburg sprach er außerdem über „Marxismus und Religionsfreiheit“. Unser Redaktionsmitglied Burkhard Bischof führte mit Pater Wetter ein Gespräch über den Eurokommunismus und r über Religionsfreiheit im Kommunismus.

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FURCHE: Ein scheinbar neues Modell des Kommunismus macht in Westeuropa die Runde und stößt teils auf Zuspruch, teils auf strikte Ablehnung, der „Eurokommunismus“. Die einen sehen darin eine von Moskau emanzipierte Bewegung, also eine eigene westeuropäische Spielart des Kommunismus, andere erblik-ken im Eurokommunismus ein „Trojanisches Pferd“, dazu da, um den orthodoxen osteuropäischen Kommunismus auch in Westeuropa einzuschleusen. Wie sehen Sie das Problem?

WETTER: Ich glaube nicht, daß man beim Eurokommunismus von einer organisatorischen oder auch ideologischen Einheit sprechen kann. Es gibt italienische, französische und spanische Kommunisten, die manche Gemeinsamkeiten haben, aber auch beträchtliche Differenzen aufweisen. Nehmen wir einmal die Gemeinsamkeiten her: Alle drei großen kommunistischen Parteien Westeuropas lehnen das sowjetische Sozialismusmodell ab! Positiv finden die Gemeinsamkeiten ihren Ausdruck in einer Erklärung, die Berlinguer, Marchais und Carrillo bei einem Treffen Anfang März letzten Jahres in Madrid formulierten. Das bedeutsamste dieser Erkärungen ist der Passus, in dem sich die drei Parteiführer zum „Pluralismus der politischen und gesellschaftlichen Kräfte“ bekennen und sich für die „Wahrung, Gewährleistung und Entwicklung aller individuellen und kollektiven Freiheiten“ wie Pressefreiheit, Freiheit der Kunst und Wissenschaft und religiöse Freiheit - um nur einige zu nennenaussprechen. Dieser Passus steht jedenfalls in einem krassen Gegensatz zu den im Ostblock vorhandenen Machtpraktiken.

FURCHE: Dennoch wird man sich gerade in diesem Zusammenhang fragen müssen, wie ernst solche Freiheitsbeteuerungen genommen werden können“. Wie sieht das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis aus? Konkret: Was ist davon zu halten, wenn die KPF beispielsweise den Begriff „Diktatur des Proletariats“ aus ihrem Parteistatut verbannt?

WETTER: Solchen Streichungen oder Weglassungen messe ich nicht allzu große Bedeutung bei. Es geht dabei meist um die Frage der Formel, nicht um den Inhalt selbst. In diesem Fall begründete Marchais die Streichung damit, daß man heute nicht mehr-gut vom Proletariat sprechen könne. Proletariat wurde durch einen anderen Begriff ersetzt, demnach lautet jetzt nur die Formel anders. Was die Freiheitsbeteuerungen umgesetzt in die kleine Münze der politischen Tagesarbeit bedeuten, kann noch nicht mit Klarheit gesagt werden.

FURCHE: Sie haben in Ihrem Referat über .Marxismus und Religionsfreiheit“ in Wien und Salzburg die Unterschiede zwischen dem italienischen und sowjetischen Kommunismus in dieser Frage aufgezeigt. Ist dieser Unterschied tatsächlich so groß?

WETTER: Ja, der Unterschied ist groß: Die Sowjetunion beschränkt die Religionsfreiheit auf reine Kultfreiheit und versucht, die Entfaltung der Religion möglichst zu behindern. Dabei gilt die sowjetische Religionsgesetzgebung auch als Modell für die anderen kommunistischen Staaten Osteuropas, kann jedoch nicht überall gleich streng gehandhabt werden, wenn ich zum Beispiel an Polen denke. Andererseits gibt es aber auch Anzeichen dafür, daß manche Staaten in Religionsfragen sogar einen noch schärferen Kurs als die Sowjetunion steuern.

Die KPI ist sich seit Gramsci bewußt, daß Italien der Sitz der Zentrale der katholischen Kirche ist und daher die Religionspolitik dieser Situation angepaßt werden muß. Was die heutige Einstellung der KPI zur Religion betrifft, ist der Briefwechsel zwischen Parteichef Berlinguer und dem Bischof von Ivrea in Piemont, Monsi-gnore Betazzi, besonders aufschlußreich. Betazzi hatte in einem Brief an Berlinguer nach den Wahlen 1976 Reflexionen über den Erfolg der KPI angestellt und den KPI-Chef gebeten, in

den kommunistisch regierten Regionen Italiens die katholischen Wahl-fahrtsr und Erziehungsinstitute nicht zu behindern. Berlinguer antwortete Bettazzi in einem offenen Brief etwa ein Jahr später, in dem er erklärte, daß für die KPI die marxistische Ideologie keinen Materialismus und Atheismus impliziere. Die KPI sei weder thei-stisch, noch atheistisch, noch antithei-stisch, noch laizistisch. In einem Leitartikel in der „Unitä“ wurde außerdem festgestellt, daß die von Berlinguer formulierten Positionen wesentliche und unaufgebbare Positionen für die KPI darstellen, unabhängig von der jeweiligen politischen Konstellation,

Weniger erfreulich war die Antwort Berlinguers auf die Bitte des Bischofs, die katholischen Institutionen unan-

getastet zu lassen. Sie war enttäuschend und ist dazu angetan, große Befürchtungen für die Zukunft hervorzurufen. Denn der KPI-Chef lehnt die Haltung des liberal-bürgerlichen Staates in dieser Frage ab, die durch ein „Laissez faire“ gekennzeichnet sei, wodurch weite« Teile der sozialen Fürsorge und desÄErziehungswesens brachliegen würden und diese Probleme von der Privatinitiative gelöst worden seien. Der demokratische Staat habe nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, diese Gebiete in seine eigene Regie zu nehmen. Berlinguer will dabei jedoch alle Richtungen zum Zuge kommen lassen und fordert die katholischen Orden und Institutionen zur Mitarbeit auf. Dennoch ist diese ganze Angelegenheit von der Sache her problematisch, denn für die katho-

lischen Institutionen und für alle anderen besteht die große Gefahr, an die Wand gespielt zu werden.

FURCHE: Wie sähe er Ihrer Meinung nach bei der Machtergreifung einer kommunistischen Partei in Westeuropa tatsächlich aus? Würde beispielsweise die KPI auch tatsächlich an ihrem Bekenntnis zum Pluralismus festhalten?

WETTER: Das ist in der Tat das große Fragezeichen! Nicht, daß ich den guten Glauben der drei Parteiführer in Frage stellen wollte: Das Problem ist nur, ob sie an der Macht das tun können, was sie tun wollen. Konkret meine •ich damit die Bindung der KPI, KPF und KPSp an Moskau. Denn man kann beispielsweise die Situation der KPI nicht nur im inneritalienischen Rahmen sehen, sondern das Problem muß in einem weltweiten Zusammenhang betrachtet werden. Die kleineren und mittleren Staaten sind nun einmal gezwungen, sich auf eine der beiden Supermächte zu stützen.

FURCHE: Politische Beobachter haben jedoch kommentiert, daß es den Eurokommunisten auf der Konferenz der kommunistischen Parteien in Ostberlin im Sommer 1976 gelungen sei, sich aus der sowjetischen Umklammerung zu lösen. War diese Berliner Konferenz tatsächlich ein Wendepunkt?

WETTER: Ich glaube nicht. Die Sowjetunion wollte in Ost-Berlin in ideologischen Fragen zuerst überhaupt nicht nachgeben. Erst als die Gefahr bestand, daß die Konferenz deswegen platzen könnte, hat Moskau in Kauf genommen, daß von einer Erwähnung des Prinzips des „proletarischen Internationalismus“ Abstand genommen wird. Trotzdem versuchte die Sowjet-Publizistik das Ergebnis soweit als möglich in ihrem Sinne umzu-fälschen und sie propagiert auch jetzt noch bei jeder Gelegenheit den „proletarischen Internationalismus“.

FURCHE: Um noch einmal zu den Erklärungen der Eurokommunisten zum Pluralismus zurückzukommen: Lassen sich Marxismus-Leninismus und westliche Demokratie überhaupt vereinbaren?

WETTER: Auf keinen Fall! Lenin hat ja in einigen Punkten Marx „korrigiert“, so in der Konzeption der kommunistischen Partei als einzig führender Kraft der Gesellschaft. Andere Parteien können demnach nur Weggefährten der kommunistischen Partei sein. So erklärte etwa die Ost-CDU, daß es ihre wichtigste Aufgabe sei, die SED zu unterstützen! Dazu bedarf es keiner weiteren Kommentare. Ein anderes Prinzip des Marxismus-Leninismus ist, daß die siegreiche Arbeiterklasse den bürgerlichen Staat zu zerschlagen habe. Übrigens gibt es dazu von den Eurokommunisten noch keine klaren Aussagen.

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