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„Anarchie ist ein Rauschgift“

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FRAGE: Herr Generalissimus, im Sommer 1976 ging das jüngste Gipfeltreffen von 28 kommunistischen Parteien in Ost-Berlin zu Ende. Allem Anschein nach setzten sich dort die „Autonomisten“ und „Eurokommunisten“ aus Frankreich, Italien, Jugoslawien, Rumänien und Spanien in wichtigen Fragen durch.

STALIN: Meines Erachtens liegt der Schwerpunkt des Gipfeltreffens keinesfalls dort, wo ihn gewisse bürgerliche und sozialdemokratische Kreise gerne sehen möchten. Was ist das — Eurokommunismus? Der Kommunismus wurde in unserer Zeit noch nirgendwo verwirklicht, somit sind auch „Spielarten“ ausgeschlossen. Jetzt ist in verschiedenen Ländern Europas, Asiens und Afrikas (auch in Kuba) der Aufbau des Sozialismus im Gange. Was nun die „Konzession“ in Sachen Mehrparteiensystem anlangt: sie ist ein Sonderangebot an die Formaldemokraten Resteuropas, damit sie sich dem historischen Prozeß stufenweise anpassen können.

FRAGE: Man verweist auf die Vorgänge in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Anfangs respektierten die Kommunisten andere Parteien, was sich jedoch schon bald als Taktik erwies. Trotzdem gibt es nicht wenige, die behaupten, die internationale kommunistische Bewegung sei in eine Phase der Selbstrevision geraten ...

STALIN: Daß es verschiedene Wege zum Sozialismus außer-und innerhalb des sozialistischen Lagers gibt, ist nichts neues. Die nationale Wirklichkeit einzelner Völker zu berücksichtigen, ohne das gemeinsame Endziel außer acht zu lassen — das ist eine herkömmliche These des wissenschaftlichen Sozialismus. Die große Neuigkeit besteht vielmehr in der weltweiten Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu unserem Vorteil, wodurch die Zusammenarbeit zwischen unseren Formationen sich noch differenzierter gestalten muß. Wir brauchen Vermittler — zu Neutralen, zu Feinden, gelegentlich auch zu Freunden — und damit die rumänischen Genossen dieser Rolle um so wirkungsvoller entsprechen, sollen sie auf allen Seiten um Sympathie ringen dürfen.

FRAGE: Warum sprach Nikita Chruschtschow nur von Entsta-linisierung, nicht auch von einer „Entleninisierung“ ?

STALIN: Es war ein Zwischenspiel, das ist nun vorbei. Sehen Sie, das muß dialektisch betrachtet werden. Nikita wollte uns damals aus der internationalen Isolierung befreien und wählte dazu die geeignete Instrumentierung. Seitdem schwatzen Schöngeister, wenn einmal die Zügel gestrafft

werden, gleich von „Neostelinis-mus“, was für Realpolitiker nur lächerlich ist. Ansonsten haben es ja meine Nachfolger sehr viel leichter, nachdem wir „Alten“ in jahrzehntelanger Kleinarbeit die neue Ordnung konsolidiert haben.

FRAGE: Aber ist es doch nicht eigenartig, daß dieselbe Politik bei Berlinguer und Marchais Ihrerseits anerkannt wird, für die Dubcek verjagt, Imre Nagy sogar hingerichtet wurde?

STALIN: Betrachten wir das alles dialektisch. Die Initiative der französischen und italienischen Genossen ist positiv, sie dient nämlich dem Aufbau des Sozialismus unter parlamentari-chen Bedingungen. Die Experimente der ungarischen und tschechischen „Reformer“ waren hingegen negativ, weil sie den Abbau sozialistischer Ordnungen vorwärtstrieben.

FRAGE: Ein demokratischer Kommunismus ist also unvorstellbar?

STALIN: Vorstellbar ist alles, doch haben die Dinge ihre unumgängliche innere Logik. Eine Wirtschaftsordnung privater Initiativen bestimmt nicht zwangsläufig die politische Struktur und kann sowohl mit „pluralistischer Demokratie“, als auch mit Diktaturen auskommen. Wie funktioniert aber ein Wirtschaftsgefüge ohne Eigentümer und Unternehmer? Da ist massive Staatsmacht, also souveräner Dirigismus, die einzig denkbare Voraussetzung. Es gibt keine Alternative, die nicht zu Chaos und Zerfall führen müßte.

FRAGE: Warum sagen die „Eurokommunisten“ ihren Wählern nicht in aller Offenheit dasselbe? Ist diese Strategie ehrlich?

STALIN: Menschliche Vorurteile lassen sich nur stufenweise zerstreuen. Westeuropa ist ein Sonderfall. Seine dekadenten Bürger gewöhnten sich an ihre politische Anarchie wie ein Süchtiger an sein Rauschmittel. Unsere Handlungsweise ist also keine Manipulation, sondern vielmehr eine heilende Operation.

FRAGE: Erlauben Sie eine letzte Frage. Befürchten Sie nicht, daß die abendländischen Einflüsse jetzt auch von innen her eine Metamorphose der ganzen kommunistischen Bewegung herbeiführen könnten?

STALIN: Mit diesem Denkbild flirten nicht wenige unserer Widersacher. Sie möchten uns „bekehren“, verändern, wenigstens aber „zähmen“. Liberalisieren, sozialdemokratisieren, christianisieren, eventuell mohammedani-sieren. Das geht aber nicht. Man kann uns nicht einmal „entstali-nisieren“.

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