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Das Eurogespenst geht nicht nur in Rom um

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Kaum ein politisches Problem beschäftigt heute Europa so sehr, wie die Frage, ob es einen gewaltlosen Weg zur Verwirklichung einer kommunistischen Gesellschaft geben kann. Der Satz von Karl Marx, festgehalten im Kommunistischen Manifest von 1848: „Ein Gespenst geht um in Europa, es ist das Gespenst des Kommunismus”, hat nichts von seiner Wirkung eingebüßt; nur müßte er heute lauten: „Ein Gespenst geht um in Europa, es ist das Gespenst des Eurokommunismus”.

Im Bewußtsein des doppelten Versagens von sowjetischem Kommunismus und westlichem Kapitalismus schauen sich heute viele Jugendliche nach einer neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung um. Und glauben, sie im Eurokommunismus gefunden zu haben. Dieser enthält viele Elemente, die ihn sogar älteren Leuten schmackhaft machen kann. Die Berufung auf einen europäischen Kommunismus verfängt in Europa schon deshalb, weil nach dem Ausgang des Zweiten Weltkriegs Europa aufgehört hat, das gute und schlechte Wetter auf der Welt zu machen. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion traten als die bestimmenden Mächte in die Geschichte ein und ließen fortan Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Spanien und Portugal - die früheren Weltbeherrscher - eine eher stiefmütterliche Rolle spielen.

Zahlreiche Jugendliche Westeuropas finden weniger deshalb Gefallen am Eurokommunismus, weil er europäisch, als weil er kommunistisch ist „Europäisch” steht in diesem Zusammenhang für „freiheitlich, demokratisch, menschlich”, für alles, was besser ist als die bisherigen Ausprägungen des Kommunismus in Rußland, China, Kuba und Jugoslawien. Jeder nicht ganz ungebildete Europäer weiß - oder sollte wissen, daß die Freiheit von der Konkurrenz der Mächte lebt und daß es nicht zuletzt den mindestens zweitausendjährigen Doppelautoritäten zu verdanken ist, wenn sich in der europäischen Zivilisation und Kultur ein besonders hohes Maß an Freiheit für den einzelnen und ein weitgehender Schutz der Menschenrechte herausbilden konnte.

Während im Osten fast überall geistige und weltliche Macht in eins zusammenfielen, sorgte in Europa das Spannungsverhältnis zwischen Kirche und Staat für eine Situation, in der sich das von der einen Seite verfolgte Individuum bei der Gegenseite in Sicherheit bringen konnte.

Unter solchen Vorzeichen wendet sich der Blick fast zwangsläufig nach Rom. Am Sitz der kommunistischen Partei Italiens, in der Via delle Bot- teghe Oscure, sind 1,8 Millionen Mitglieder registriert, mehr als dreimal soviel als im Generalsekretariat der KPF in Paris.

Das Wort vom „Staat im Staate” kann keine Partei im Westen so sehr für sich allein beanspruchen, wie die KPI. Sieben von 19 Regionalverwaltungen Italiens unterstehen ihrem direkten Einfluß. Die KPI kann als das eigentliche Sammelbecken der Linkskräfte des Landes bezeichnet werden. Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß kommunistisches Gedankengut den Kulturbetrieb—Theater, Film, Literatur, Massenmedien — maßgeblich beeinflußt

Zweifellos dürfen solche Verhältniszahlen und Ertscheinungsformen des kommunistischen Machtanteils weder überschätzt noch unterschätzt werden. In ihnen kommt jedenfalls etwas Wesentliches nicht voll zum Ausdruck, nämlich die zündende Wirkung, die mitunter von einer Bewegung ausgehen und der vom Versagen des Sowjetkommunismus und des Kapitalismus überzeugten Jugend als Ansporn dienen kann. Gerade in dieser Hinsicht kommen Rom und der KPI heute große Bedeutung zu: sie vermögen dem Gespenst des Eurokommunismus Anhaltspunkte zu liefern.

Italien und die Italiener sind erfinderisch und geschichtsträchtig und sie verdienen mehr, als nur belächelt zu werden Auch wenn es gerade ihr lächelndes Wesen ist, das andere nötigt, sie und sich sehr ernst zu nehmen.

Sicherlich hat Santiago Carillo mit seinem Buch „Eurokommunismus und der Staat”, mit der sowjetischen Reaktion darauf im vergangenen Juli und anläßlich der Feierlichkeiten in Moskau, einige Wochen lang die Aufmerksamkeit der Europäer auf sich und Spanien gelenkt. Daß Madrid aber Rom den Rang als Herd des Eurokommunismus ablaufen wird, dürfte jedoch sehr zweifelhaft sein .. .Obwohl Carillo der erste Generalsekretär einer europäischen KP ist, der den Eurokommunismus anerkannte, als er „dem Block lateinischer Kommunisten”, der die amerikanische Hegemonie in Frage stelle und sich als Alternativmodell zum sowjetischen Sozialismus empfehlen könne, alle Chancen zusprach. Eine geistige und politische Bewegung wie der Eürokommunis- mus lebt nicht von Eintagsfliegen. Dahinter muß sich eine tragende Substanz verbergen, und diese bietet die KPI wie keine andere kommunistische Partei im Westen.

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