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Wird Indien kommunistisch?

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Wo immer in hochzivilisierten Ländern das Gespräch auf die Möglichkeit der Machtergreifung des Kommunismus in einem noch freien unterentwickelten Land gebracht wird, kann man die Bemerkung hören: „Bei dieser Armut muß der Kommunismus ja früher oder später aufkommen.“ Die Vorstellung ist weit verbreitet, daß schlechte Lebensbedingungen notwendigerweise zum Kommunismus führten. Bei der Gewährung von Krediten und Warensendungen westlicher Staaten an afrikanische und asiatische Länder spielt immer auch der Gedanke mit, daß wir hoffen, auf diese Weise dem Vormarsch des militanten Sozialismus Einhalt gebieten zu können. Die letzten zwölf Jahre schienen noch bis vor kurzem diese Theorie zu bestätigen, denn Moskau und Peking versuchten sich nur in der vertikalen — auf dem Mond! — und nicht in der horizontalen Richtung auszubreiten. Nun aber scheinen die Chinesen von ihrer horizontalen Expansionspolitik wieder Gebrauch zu machen. Peking erklärte die MacMahon-Linie als hinfällig und entsandte an die indisch-chinesische Himalaja-Grenze Kampftruppen, deren Vormarsch nach dem Süden, trotz indischen Widerstande, unaufhaltsam fortschreitet.

Werden dagegen die Verhältnisse etwas näher unter die Lupe genommen, so stellt man fest, daß Armut und Elend an sich nirgends zum Aufkommen des Kommunismus führten. Wenn die Erweiterung seiner Einflußsphäre zu Anfang der fünfziger Jahre zum Stehen gebracht werden konnte, so nur deshalb, weil noch viele andere Faktoren mit im Spiel waren. Das noch freie Asien und sämtliche afrikanischen und südamerikanischen Länder weisen Kulturtraditionen auf, die dem Marxismus als „atheistische Religion“ völlig entgegenstehen. Mit der I.eug-nung oder bloß Infragestellung einer übernatürlichen, irrationellen Welt vermag der Kommunismus höchstens bei der Intelligentia und einigen Opportunisten dieser Länder, niemals aber beim breiten Volk Fuß zu fassen. Solange die althergebrachte hinduisti-sche Kulturtradition nachwirkt, hat der Kommunismus trotz gleichbleibender oder sich wenig verringernden Armut keine Chance, auf „natürliche“ Art und Weise an die Macht zu gelangen. Im übrigen ist zu bedenken, daß der Kommunismus auch vorher lediglich auf gewaltsame Art und Weise seinen Geltungsbereich erweiterte. Revolutionärer Coup d'Etat, Wirren und Krieg sind und bleiben die drei klassischen Methoden der kommunistischen Machtergreifung. Mittels des Stimmzettels vermochte der Kommunismus nur im südindischen Staat Kerala zum Ziel zu gelangen. Doch hier lagen besondere Verhältnisse vor: Die nichtkommunistischen Parteien waren unter sich gespalten und konnten sich nicht einmal unter dem Zeichen des Antikommunismus zusammenschließen. Sie operierten aus dem alten patriarchalischen Geist einiger alter eingesessener Familien und wohlmeinender, aber völlig untüchtiger Greise, die meinten, Kerala sei ein echter orientalischer Staat, und nicht das, was es wirklich ist: ein fruchtbares, aber stark übervölkertes Land mit einer sich fest westlich gebärdenden Bevölkerung, einer bald zwei-tausendjährigen christlichen Tradition und einem relativ hohen Bildungsniveau, das in Asien kaum seinesgleichen hat. Nach zweijähriger Herrschaft wurde das rote Regime vom Trivan-drum gestürzt, ohne daß man allerdings sagen kann, daß die Gefahr für alle Zeiten gebannt und der Vormarsch des Kommunismus auch nur aufgehalten worden ist.

Wir müssen nicht soweit gehen, um die Richtigkeit der These, daß Armut und Elend an sich nicht zum Kommunismus führen, bestätigt zu finden. In Italien sind es keineswegs die rückständigsten Gebiete, welche dem „Par-tito Communista Italiano“ zu seinem Vormarsch verhalfen. Im Gegenteil sind Kalabrien, Lukanien und die Ba-silicata gerade jene Regionen, welche bisher die größte Resistenz gegenüber der roten Gefahr bewiesen haben. Die Hochburg des italienischen Kommunismus befindet sich nicht im Süden der Apenninenhalbinsel, sondern in ihrem Zentrum, in Bologna und Reggio Emi-lia, wo der Lebensstandard sehr viel höher ist als im Stiefelabsatz. Allerdings ist er in der Emilia und Romagna nicht so hoch wie im Industriedreieck Mailand-Turin-Genua, wo der Fortschritt ein derartige: Ausmaß erreicht hat, daß er den militanten Sozialismus - wie überall in Nordeuropa und Nordamerika — wieder abnehmen ließ.

Freilich muß man sich hüten, voreilig,, zu .schließen, daß das, was-für ein. europäisches Land zutrifft, auch richtig ist für ein Land im Fernen Orient. Und doch können bei der Frage der Ausbreitung des Kommunismus einige allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten festgestellt werden. Die rote Gefahr wird dort akut, wo die Mehrheit einer Volksgemeinschaft sich nicht mit den schlechten oder für schlecht gehaltenen Lebensbedingungen zufrieden gibt, ausgleichende Gerechtigkeit verlangt, den Gleichheitsanspruch stellt und eine gut organisierte, über große finanzielle Mittel verfügende Kommunistische Partei die soziale Unrast zu ihren Gunsten ausnützt.

Wie verhält es sich nun damit in der Indischen Union? Besteht eine eigentliche rote Gefahr in diesem Land? Unter den gegebenen Umständen: nein. Haben doch die Vertreter der „roten Gefahr“ Teile Indiens fast in einer Blitzaktion überrannt und besetzt. Dazu kommt noch: die indische Bevölkerung hat in ihrer großen Mehrheit noch lange nicht den Bildungsstand (oder sollte man sagen: Verbildungsstand?) erreicht, von dem aus sie sich nicht mit den Lebensverhältnissen zufrieden gibt, ausgleichende Gerechtigkeit verlangt und den Gleichheitsanspruch stellt, ohne in der Lage zu sein, diesen Anspruch zum eigenen Vorteil durchzusetzen. Die sprachliche Integration ist viel zuwenig fortgeschritten: Noch müssen sich die Inder bekanntlich der englischen Sprache — keiner Landessprache! — bedienen, um sich gegenseitig zu verstehen; es wird Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauern, bis das Hindi die Stellung des Englischen in Indien übernommen haben wird. Bis dahin kann der Nationalismus (die nationale Integration) aller Voraussicht nach derart erstarken, daß der Kommunismus mit seinem internationalen Anliegen einmal mehr ein verlorenes Spiel hat.

Elend und Armut werden weitherum noch immer als Selbstverständlichkeiten hingenommen. Seit Menschengedenken kennen die Massen nichts anderes als Entbehrung, Hunger, Not und Sorgen. Vor der englischen Herrschaft mag es den Uberlebenden besser ergangen sein. Es muß jedoch der Kolonialzeit zugute gehalten werden, daß sie die Sterblichkeit erheblich herabsetzen und die Geburtsrate erhöhen half. Man darf ferner nicht übersehen, daß selbst in Europa und Amerika der Massenwohlstand erst ein Ergebnis des 20. Jahrhunderts ist und vor 60 Jahren die meisten Menschen such bei uns ein ziemlich entbehrungsreiches Dasein fristeten.

Soweit die Ergebnisse der indischen Parlamentswahlen überhaupt einen Hinweis für die Beantwortung unserer Frage abgeben, wird unsere Vermutung der vorderhand geringen innenpolitischen Chancen des Kommunismus in Indien vollkommen bestätigt. 1952, 1957 und 1962 haben Sichel und Hammer keine großen Massen hinter sich gebracht. In der 504köpfigen Lok Sabha (Zentralparlament in New Delhi) stellen sie nur 30 Abgeordnete, was relativ eine Einbuße gegenüber dem Besitzstand der letzten Legislatur ausmacht. Die KPI (Kommunist Party of India) stellt zwar die zweitgrößte Partei Indiens dar, aber bald dürfte ihr dieser Rang von der liberalen Swa-tantra Party abgelaufen werden, die Jetzt schon in den Legislative As-semblis (Parlament der Einzelstaaten) nach der Congress Party die meisten Abgeordneten stellt. Die KPI mag straff organisiert sein; doch gerade ihre doktrinäre Ausrichtung nach Moskau vermag bei dem immer noch vorwiegend partikularistisch denkenden indischen Volk vorderhand keine Breitenwirkung erzielen. Heinrich Bechtold vermerkt in seinem Asienbuch zu Recht, daß in Indien „die Interessen am Anfang jedes (politischen) Zusammenschlusses stehen, in Europa jedoch am Ende“. Gerade als „multi-interest-party“ kann „The National Congress Party Gandhis und Nehrus bei diesem verfangen. Die KPI ist und bleibt ein Fremdobjekt. 1925 von England aus ins Leben gerufen, wurde sie neun Jahre später als offizielle Partei etabliert. Im zweiten Weltkrieg blamierte sie sich vor den Massen, indem sie die Schaukelpolitik Rußlands in Hinsicht auf Hitler-Deutschland mitmachte und vor den Augen des Volkes die nationalen Anliegen — sogar diejenigen der Unabhängigkeit — offensich'tliCh den revolutionären internationalen Absichten Moskaus unterstellte. Die' indischen Kommunisten mögen sich heute als „mehr Inder als Moskowiter“ ausgeben und im Gefolge des 21. Parteikongresses eine vermehrte Eigenständigkeit zur Schau tragen. Ihrer ganzen Ideologie nach sind sie gegen den Hinduismus, ja auch gegen „Mother India“ und ihre eigensten Anliegen eingestellt. Zudem kennt man sie wegen ihrer oft unangebrachten Streikaufrufe im ganzen Land als Unruhestifter (trouble makers), womit sie bei diesem unkämpferischen, geduldigen Volk nicht mit der geheimen Bewunderung rechnen dürfen, auf die die Genossen in Europa da und dort zählen können. Ihr Prinzip des Gemeininteresses über dem Einzelinteresse mag weitherum anerkannt werden, die Anwendung dieses Prinzips, ihre Methode der offenen oder versteckten Gewalt, wird jedoch allgemein abgelehnt. Viele indische Kommunisten haben noch nicht begriffen, daß sich die russischen Erfahrungen nicht auf die indischen Verhältnisse übertragen lassen und in ihrem Land die Revolution und das Revolutionieren keine Werte, sondern große Unwerte ausmachen. Man darf ihnen zwar das Übersehen dieser Erkenntnis nicht übelnehmen, fließt es doch geradewegs aus der marxistischen Doktrin, welche meint, alle Richtlinien aus allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ableiten zu können, und verkennt, daß die besondere Wertstruktur eines Volkes mit an der Wurzel der Geschehnisse steht. Der Eindruck, den das Eintreten der KPI für die indische Sache im Kampf gegen den chinesischen Angriff machte, muß noch abgewartet werden.

Was hier für die Gegenwart festgehalten wird, besitzt keinerlei unveränderliche Gültigkeit für die Zukunft. Wird der Bildungsstand weiterhin gehoben, ohne daß im gleichen Ausmaß die sozialen Verhältnisse verbessert werden, so können bei der in manchen Belangen offiziell geächteten Kulturtradition vielleicht schon bald die Aussichten für das Aufkommen des Kommunismus in Indien größer werden. Neben der äußeren roten Gefahr von Seiten Rotchinas muß Neu-Delhi immer auch mit der inneren roten Gefahr rechnen, die nicht etwa — wie viele meinen — bereits überwunden ist, sondern vielmehr erst noch gebannt werden muß. Bisher vermochte man die Engländer für alle Übelstände verantwortlich zu machen; schließlich muß man jedoch die Sündenböcke in den eigenen Reihen suchen und stellt nicht nur kolonialistische, sondern auch soziale Fehler und Unzulänglichkeiten fest. Die Entwicklungshilfe läßt sich von den Kommunisten leicht als getarnter Neokolonialismus hinstellen. Die politische Absicht, welche hinter ihr steckt, verstimmt die Inder leicht und treibt sie um so eher und entgegen aller ihnen besser anstehenden Dankbarkeit in die Arme der KPI. Es wird sehr viel Feingefühl und der Umstellung vieler und lieb gewordener Denkweisen bedürfen, daß es dem Westen auf die Dauer hin gelingen wird, Indien für die Freiheit und Demokratie zu retten.

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