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Rote Milchmadchenrechnung

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Hat für Italien jetzt offiziell die Stunde des „historischen Kompromisses“ zwischen Christdemokraten und Kommunisten geschlagen? Seit KP-General Enrico Berlinguer unmittelbar nach dem Sturz des chilenischen Präsidenten Allende 1973 diesen Vorschlag auf den Tisch gelegt hat, bestimmt er die politische Diskussion der Apenninenhalbinsel. Damals verabschiedete der rote Marquis endgültig die Volksfrontvorstellungen, weil man, wie das Beispiel Chile gezeigt habe, nicht mit „51 Prozent“ große soziale Reformen durchführen könne. In Italien müßten alle drei großen Komponenten der Volksbewegung, die katholische, die sozialistische und die kommunistische zusammenarbeiten, um die dringend notwendig gewordenen Reformen durchzuführen. Berlin-guers Wunschbild von einer für die Reform engagierten „Mehrheit der 80 Prozent“ entspricht faktisch dem Modell einer Konzentrationsregierung, das im Parlament nur mehr Platz für eine bedeutungslose Restopposition läßt.

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Hat für Italien jetzt offiziell die Stunde des „historischen Kompromisses“ zwischen Christdemokraten und Kommunisten geschlagen? Seit KP-General Enrico Berlinguer unmittelbar nach dem Sturz des chilenischen Präsidenten Allende 1973 diesen Vorschlag auf den Tisch gelegt hat, bestimmt er die politische Diskussion der Apenninenhalbinsel. Damals verabschiedete der rote Marquis endgültig die Volksfrontvorstellungen, weil man, wie das Beispiel Chile gezeigt habe, nicht mit „51 Prozent“ große soziale Reformen durchführen könne. In Italien müßten alle drei großen Komponenten der Volksbewegung, die katholische, die sozialistische und die kommunistische zusammenarbeiten, um die dringend notwendig gewordenen Reformen durchzuführen. Berlin-guers Wunschbild von einer für die Reform engagierten „Mehrheit der 80 Prozent“ entspricht faktisch dem Modell einer Konzentrationsregierung, das im Parlament nur mehr Platz für eine bedeutungslose Restopposition läßt.

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Seit 1973 hat die Democrazia Cristiana das Angebot des „historischen Kompromisses“ in den Äußerungen ihrer Spitzenfunktionäre immer wieder entschieden zurückgewiesen. Gleichzeitig hat die Partei in ihrem praktisch-politischen Verhalten aber, von der permanenten Krise des Landes in die Enge getrieben, so gehandelt, als ob sie sich heute oder morgen doch auf den Flirt mit Berlinguer einlassen würde. Die jetzt gestürzte Miinderheitsregierung Moro zum Beispiel konnte sich nur dank der sanften Opposition und des guten Willens der KP so lang halten und dieser „gute Wille“ wurde auch honoriert: etwa durch Aufnahme kommunistischer Abänderungsvorschläge in Regierungsvorlagen. Die KP hat der Regierung Schwierigkeiten mit den Gewerkschaften vom Hals gehalten, sie hat die Mäßigungsparole mit gewohnt fester Hand in ihrer Basis durchgedrückt. Es waren die Kommunisten, die bei der Beratung des Abtreibungsgesetzes im zuständigen Parlamentsausschuß mit den Christdemokraten ' gemeinsam stimmten und so gegen die Phalanx aller anderen Parteien das Fristenlösungsmodell zu Fall brachten.

Seit dem spektakulären Erfolg der Kommunisten bei den Regionalwahlen am 15. Juni (die ihnen 33,4 Prozent der Stimmen und damit nur um 1,9 Prozent weniger als der DC brachten) ist auf der lokalen Ebene die lauthals verkündete Ablehnung des „historischen Kompromisses“ vollends unglaubwürdig geworden. Denn in zahlreichen Regionen, so zum Beispiel in der wichtigen Lombardei, wurden nach dem 15. Juni sogenannte „offene“ (zu den Kommunisten offene) Regierungsausschüsse gebildet, das heißt, die Regierungsämter wurden im Rahmen der Mitte-Links-Formel oder nur zwischen Christdemokraten und Sozialisten verteilt, das Regierungsprogramm aber in aller Öffentlichkeit mit den Kommunisten ausgehandelt und mit ihnen vereinbart. Diese Vorgangsweise ist zuletzt Anfang Jänner auch in der Stadt Palermo praktiziert worden, obwohl Palermo die einzige Stadt war, in der die DC am 15. Juni keine Verluste hatte hinnehmen müssen.

Wie aber konnte es überhaupt so weit kommen, daß die KP ins Vorzimmer der Macht gelangt ist? Zweifellos spielen die „Spezialitäten“ des italienischen politischen Systems dabei eine Rolle. Durch das Fehlen einer großen demokratischen Oppositionspartei hatte die DC als relative Mehrheitspartei faktisch dreißig Jahre hindurch die Rolle der Regierungspartei ohne Alternative gepachtet, die sich unter den rechten und linken laizistischen Parteien, den Liberalen, Sozialdemokraten, Republikanern und Sozialisten ihre Koalitionspartner aussuchen konnte. Da die DC niemals einen „Wirtschaftsbund“ hatte, die italienische Industrie auch nach 1945 überwiegend dem bürgerlichen Laizismus treu geblieben ist, suchte sich die Partei im Bereich der Staatsindustrie eine ökonomische Basis zu schaffen. Die „Kolonisierung“ des Apparats der Staatsindustrie, in dem jeder christdemokratische Politiker ganze Scharen von „Klienten“ im altrömischen Sinn unterzubringen trachtete, schadet dem Renomee der DC jetzt ebenso wie die Ausdauer ihres politischen Personals. Fanfani, Moro, Andreotti, Emilio Colombo, Taviani spielten auch schon in den vierziger Jahren die erste Geige. Im Karussell der Notabein der DC können sich neue Gesichter nur mit Mühe durchsetzen.

Vor allem aber war die DC immer ein sehr heterogenes Gebilde. Der liberale Publizist Luigi Barzini hat die Partei boshaft „ein bunt zusammengesetztes Flickwerk nahezu aller wichtigen in Italien existierenden sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Ideen“ genannt. Nach seiner Ansicht finden die Christdemokraten ihren Zusammenhalt „nicht in einer politischen Idee, sondern in der Ausübung ihrer Machtbefugnisse und im religiösen Glauben. Der einzige Grundsatz, den sie ohne Abweichung teilen müssen, besteht im Festhalten am athanasia-nischen Glaubensbekenntnis.“ Das „hohe C'! hat in der Democrazia Cristiana immer eine wesentlich größere Rolle gespielt als bei den anderen christdemokratischen Parteien. Die DC verstand sich von ihrer Gründung her nicht als Partei des Bürgertums, sondern als Partei von Katholiken, die ein christlich inspiriertes Gesellschaftsmodell verwirklichen wollen — allerdings in Zusammenarbeit mit anderen Kräften.In der Partei selbst wäre aber für Liberale kein Platz gewesen und sie hätten auch gar nicht Anschluß bei der DC gesucht. In der klassischen Definition Alcide de Gasperis verstand und versteht sich die DC als „Partei der Mitte, die nach links marschiert“. Antikapitalistische und antibourgeoise rhetorische Übungen sind in der DC daher auch in jenen Jahren Pflicht gewesen, in denen die Partei Motor des Aufbaus der Konsum- und Leistungsgesellschaft in Italien war.

Seit dem 25. Juni 1975 hat die Partei den Marsch nach links mit großer Entschiedenheit angetreten. Damals war Amintore Fanfani als Parteisekretär gestürzt worden, an seine Stelle trat Benigno Zaccagnini, ein Politiker „mit reinen Händen“, ein Mann des antifaschistischen Widerstands, der nie ein Hehl daraus gemacht hatte, in der DC weit links zu stehen. Fanfani wurde angelastet, im Rahmen seiner Operation zum Aufbau eines antikommunistischen Ordnungsblocks die „volksverbundene Seele“ der DC verraten zu haben. Tatsächlich war unter seiner Parteiführung nicht nur das Verhältnis zur parteiinternen Linken sehr gespannt, auch die Verbindungen zur christlichen Gewerkschaftsbewegung CISL und zu den katholischen Arbeitervereinigungen ACLI drohten endgültig abzureißen. Auf Fanfanis Schuldkonto wurden die Stimmen jener 1,6 Millionen „demokratischer Katholiken“ geschrieben, die beim Scheidungsreferendum für die Beibehaltung des Scheidungsgesetzes gestimmt und bei den Regionalwahlen der KP ihre Stimme gegeben hatten. Benigno Zaccagnini, wo immer er auftritt, mit stürmischem Applaus begrüßt, hat es verstanden, in den letzten Monaten die schon verloren geglaubten linken Vorfeldorganisationen der DC wieder enger an die Partei zu ketten. Obwohl er sich dabei zunächst auf die drei linken Strömungen („Correnti“) der DC stützte, hat er nach und nach auch in der Mitte der Partei breiten Konsens gewonnen. Die Anhänger Fanfanis bröckeln ab, die Strömung der „Dorotei“, der Technokraten der reinen Machtausübung, früher die wichtigste der Partei, ist auseinandergebrochen. Ursprünglich wollte Zaccagnini die DC nur bis zum nächsten Parteikongreß führen, dessen Beginn für 4. März festgesetzt ist, jetzt scheint es, als wolle er das Charisma des „Retters in letzter Stunde“ noch länger ausnützen.

Im Kampf um die „rifondazione“, die „Erneuerung“ der DC und die Lösung des ungeklärten Verhältnisses zur KPI ist in den letzten Monaten die katholische Kirche als wichtiger Faktor stärker in Erscheinung getreten. 1968 hatten die Bischöfe der Apenninenhalbinsel zum letzten Mal ein „einheitliches Votum“ der Katholiken bei den allgemeinen Wahlen gefordert, 1972 war das schon nicht mehr der Fall gewesen, die Entfremdung zwischen DC und Teilen der Hierarchie greifbar geworden. Sogar beim Scheidungsreferendum, dessen Ausgang dann doch als Niederlage der Kirche interpretiert werden sollte, hatten sich die Bischöfe zurückgehalten, die DC war mit rein innerweltlichen Argumenten gegen die Scheidung zu Feld gezogen.

Um so größeres Aufsehen erregte es, als am 9. Oktober 1975 Kardinal Ugo Poletti, Vikar des Papstes für die Stadt Rom, einer der einflußreichsten Purpurträger Italiens, vor den Dechanten de- Ewigen Stadt eine offene Kampfansage an den Marxismus und im besonderen an den Kommunismus formulierte: „Zwischen der ,Stadt Gottes', die die Kirche ist, und der .Stadt ohne Gott' des marxistischen Materialismus ist die Auseinandersetzung unvermeidlich.“ Der Kommunismus sei heute — wie er es immer gewesen sei und immer sein werde — marxistischer Materialismus. Aus taktischen Gründen könne er sich wohl um tolerante Erscheinungsformen bemühen, aber in seiner Substanz sei und bleibe er materialistisch und atheistisch.

Polettis erster Kampfansage sind inzwischen weitere gefolgt. Am 29. November meldeten sich die Bischöfe der Lombardei in einem gemeinsamen Dokument zu Wort: „Wir leugnen nicht, daß es Bewegungen und Doktrinen gibt, einschließlich der marxistischen Ideologie, die sich für humane Ideale wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden usw. einsetzen. Aber wenn diese Ideale von anderen nicht weniger authentischen und unveräußerlichen wie Freiheit, Religion, Gewaltlosigkeit getrennt werden, führen sie nicht zum wahren Guten, sondern in den Totalitaris-mus, der eine neue, wenn auch andere Form der Sklaverei ist.“ Noch viel schärfer sollte dann der ständige Rat der italienischen Bischofskonferenz am 15. Dezember feststellen: „Man kann nicht gleichzeitig Christ und Marxist sein.“ Der Christ könne nicht ideologische Systeme unterstützen, die radikal oder in wichtigen Punkten dem Glauben und dem christlichen Menschenbild entgegengesetzt seien. Unter diese Systeme müßten alle totalitären, radikalen oder laizistischen Ideologien gezählt werden, ebenso jene, die sich zu einer materialistischen oder atheistischen Lebensauffassung bekennen. In der Erklärung wurde der Kommunismus ausdrücklich beim Namen genannt, ja die Bischöfe meinten, bereits Formen der neuen Sklaverei im eigenen Land erkennen zu können.

Der einflußreiche Chefredakteur der Jesuitenzeitschrift „La Civiltä Cattolica“, Bartolomeo Sorge, stellte dann fest, den Bischöfen sei es nicht um einen Kreuzzugsaufruf gegangen. Sie hätten nur auf der Ebene der Lehraussage die notwendigen Klarstellungen geben müssen. Keineswegs sei der Episkopat damit hinter die berühmte Unterscheidung zwischen falschen Ideologien und den aus diesen Ideologien entwickelten historischen Bewegungen zurückgegangen, wie sie Johannes XXIII. in „Pacem in terris“ und Paul VI. in „Octogesima adveniens“ getroffen hätten. Es bleibe dem christlich gebildeten Gewissen der einzelnen Katholiken überlassen, festzustellen, ob sich zum Beispiel die KPI positiv von ihrer dem Irrtum verhafteten ideologischen Grundlage, dem Marxismus-Leninismus, wegentwickelt habe. Das gelte ebenso für alle anderen Parteien. Außerdem bleibe von der lehrhaften Aussage der Bischöfe die Notwendigkeit unberührt, so betonte Sorge, auf der historisch-politischen Ebene „loyal in gemeinsamer Anstrengung zur Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen zusammenzuarbeiten“.

Sorges Klarstellungen machten deutlich, daß die Bischöfe zwar ein Alarmzeichen setzen und vor allem den sogenannten „demokratischen Katholiken“ einen Strich durch die ideologische Milchmädchenrechnung „christlicher Einsatz in dieser Welt= Engagement in der KP, in der sozialistischen Partei oder gar in der außerparlamentarischen Linken“ machen wollten, anderseits aber nicht der Eindruck erweckt werden sollte, als ob katholisch sein und DC wählen ein und dieselbe Sache wären.

Noch deutlicher sprach zum Jahresende Kardinal Poletti aus, was ihn als ersten dazu veranlaßt hatte, Fraktur zu reden. Nämlich „das Gefühl, daß sich eine Haltung der Müdigkeit und der Resignation angesichts des Vormarsches einer kommunistischen Partei ausbreitet, die sich als prdnungspartei präsentiert, Achtung aller Freiheiten verspricht und in den verschiedensten sozialen Schichten Verbindungen sucht. Wenn die Kirche weiter geschwiegen hätte, wäre der Eindruck verstärkt worden, der Vormarsch der KPI sei unaufhaltsam— und das ist nicht wahr.“ Was von der KPI zu halten sei, zeige sich in den seit Jahrzehnten von ihr verwalteten Regionen (Emilia-Ro-magna und Toskana): Dort würden zum Beispiel die kirchlichen Schul-und Sozialhilfeeinrichtungen langsam, aber sicher an den Rand gedrängt. Poletti benützte die Gelegenheit, um den Finger auf die Wunde des Antiklerikalismus zu legen, der in bürgerlicher wie auch in sozialistischer Spielart in Italien täglich neue Blüten treibt, während sich die KP ängstlich davor hütet, sich diesen Jargon zu eigen zu machen, so sehr, daß bürgerliche Radikale Berlinguer als Alliierten der „Mesner und Kardinäle“ verächtlich machen. Der Aufschrei unter den politischen Parteien von den rechten Liberalen bis zu den außerparlamentarischen Linken gegen seine Warnung vor einem „roten Rom“ habe jene Tendenz verdeutlicht, die sich schon beim Scheidungsreferendum bemerkbar gemacht habe, meinte der römische Kardinal: „Wenn es um einen religiösen Wert oder den christlichen Namen geht, vergißt das ganze laizistische Spektrum auch die politischen Interessen und verbündet sich gegen die Kirche, gegen alles, was den christlichen Namen hat.“ Diese sozialpsychologischen Faktoren können zur Erklärung mancher Entwicklungen der italienischen Polit-Szene-rie beitragen.

Es bleibt die Gretchenfrage: Kann man der KPI trauen? Hat sie sich wirklich vom Marxismus-Leninismus wegentwickelt? Ist die mehr oder weniger offene Absage an das Moskauer Modell des Sozialismus mehr als ein taktisches Manöver? Wortreiche Bekenntnisse zu den Grundfreiheiten und Menschenrechten, selbst zur Aufrechterhaltung des Privateigentums an Produktionsmitteln, hat die KPI genug abgegeben. Die Bedenken vor der „roten Umarmung“ des historischen Kompromisses sind deshalb nicht kleiner geworden.

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