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Zersplittertes Spektrum

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Wird sich die politische Szenerie Italiens durch die weltweit diskutierte „Schicksälswahl“ am 20. Juni total verändern? Manches spricht dafür, daß die Wahl selbst doch keine Lösung bringen wird. Nach jüngsten Umfragen kann die Democrazia Gristia-na wieder mit 35 Prozent der Wählerstimmen rechnen. Jetzt, nachdem sich die (neofaschistische) „Sozialbewegung“ selbst ausmanövriert hat, vielleicht sogar mit etwas mehr. Damit bleibt sie der KPI Berlinguers, die den Auguren zufolge höchstens auf 34 Prozent kommen wird, um eine Nasenlände voraus — an der Pattstellung ändert sich nichts.

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Wird sich die politische Szenerie Italiens durch die weltweit diskutierte „Schicksälswahl“ am 20. Juni total verändern? Manches spricht dafür, daß die Wahl selbst doch keine Lösung bringen wird. Nach jüngsten Umfragen kann die Democrazia Gristia-na wieder mit 35 Prozent der Wählerstimmen rechnen. Jetzt, nachdem sich die (neofaschistische) „Sozialbewegung“ selbst ausmanövriert hat, vielleicht sogar mit etwas mehr. Damit bleibt sie der KPI Berlinguers, die den Auguren zufolge höchstens auf 34 Prozent kommen wird, um eine Nasenlände voraus — an der Pattstellung ändert sich nichts.

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Die Sozialisten wollen nur dann mit der DC regieren, wenn auch die KP im Regierungsfboot sitzt. Vertreter aller DC-Richtungen versichern lautstark, 'das kotmime nicht in Frage. Die KP wiederum will sich aus Angst vor einer „chilenischen“ Entwicklung auf keinen Fall auf ein VollkstEront-experiment einlassen. Die KP Berlinguers ist aber auch nicht gewillt, die Rolle einer stillen Teilhabern! der Macht weiterzuspielen,, die so wie in den letzten Jahren nur auf dem Umweg informeller Salonge-spräche mitotischen darf.

Eine der Wurzeln der Krise liegt in einer bis vor kurzem äußerst dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung, die aber von ernstesten „Gleichgewichtsstörungen“ gekennzeichnet war: Ausblutung der Landwirtschaft, weitere Verschärfung der seit (hundert Jahren anhaltenden Pauperisierung des Südens, hemmungslose Verstädterung, unter deren Last die Infrastrukturen dem Zusammenbruch nahe sind. Dazu kommt, daß die spontane revolutionäre Flamme des Jahres 1968 vielleicht nur in Italien wirklich gezündet hat. Seit damals ist es, verstärkt durch den „heißen Herbst“ 1969, zur Politisierung breiter Schichten gekommen.

Die Politisierung der Basis hat aber auch jene linksextremen außerparlamentarischen Sektierer ins Spiel gebracht, die gerade wegen ihrer Unkontrollierbarkeit von der KP scharf bekämpft werden. Zudem ist in den letzten Jahren von der intellektuellen Elite, des Landes der, DC systematisch der Prozeß gemacht worden. Und awar in einer Totalität und Schärfe, die nur mit dem Kampf der Aufklärer gegen das Ancien Regime im Frankreich vor 1789 zu vergleichen ist. Die zum großen Teil von der intellektuellen Schickeria beherrschte Presse hat die Machtausübung der DC zum „Regime“ umstilisiert, dem jede Hinterlist zuzutrauen sei.

Italien ist nicht nur ein Laboratorium, in dem explosive ideologische Mischungen gebraut werden, sondern auch ein Museum so ziemlich aller geistigen Strömungen der letzten Jahrhunderte, wie es der liberale Publizist Luigi Barzini einmal formulierte. So ist ein kämpferischer bürgerlicher Laizismus in Italien immer lebendig geblieben. Die bürgerlichen Schichten behielten ihre eigenen politischen Ausdrucksformen: die republikanische oder die liberale Partei. Die DC, schon von Alcide de Gasperi als eine „Partei der Mitte, die nach links marschiert“ definiert, hat sich niemals als konservative Partei verstanden, sondern als Massenbewegung, die auf Gesellschaftsveränderung abzielt. Verbal gab und gibt sich die DC immer sehr progressiv.

Aber es kam in Italien auch nicht zur Ausbildung einer großen Sozialdemokratie, es sei denn, man möchte die KP Berlinguers mit ihrem Streben nach Effizienz, ihrer totalen Absage an den Wortradikalismus, ihrem Vorstoß in den Bereich der Beamten und der Selbständigen die italienische Version dieser Bewegung nennen.

Als Konsequenz dieser Vielgestaltigkeit des Meinungsspektrums mußte die DC zur bislang unersetzlichen Achse des politischen Systems werden. Ob sie Mitte-Rechts oder Mitte-Links paktierte, sie blieb unangefochten die Mehrheitsaktionärin des italienischen Staatsapparats. Die Gewöhnung an die Machtausübung hat die DC einige Generationswechsel versäumen lassen — was vielleicht schwerer wiegt als die pausenlos lancierten Korruptionsskandale. In Rom erscheinen immer noch die politischen Altersgenossen Raabs und Schärfs allabendlich auf dem Fernsehschirm.

Auch mit ihrer großen Rivalin, der KP, hat die DC schon einmal — von 1944 bis 1947 — RegierungsVerantwortung getragen. Die Uberwindung des Faschismus, die Entscheidung für die Republik, die neue Verfassung wurden gemeinsam errungen. Daß die DC der KP mißtraut, geht nicht nur auf die historischen Erfahrungen aus dem kommunistischen Vormarsch in Osteuropa zurück. Denn die KPI hat von ihren beiden „Gründervätern“ her schon immer zwei Gesichter getragen. Das Gesicht des Philosophen Antonio Gramsci, eines sanften Gelehrten, der dem Marxismus zumindest ansatzweise 'die idogmatisch-to-talitären Zähne gezogen hat Dieses Gesicht versucht heute Berlinguer unter dem Schlagwort Eurokommunismus populär zu machen. Aber die Basis der Partei schätzt auch das Gesicht des zweiten „Gründervaters“: das des weniger zart besaiteten Ingenieurs Amedeo Bordiga, der sozusagen ein Stalinist vor Stalins Glanzzeit war.

Diese KP kann sich kaum Chancen ausrechnen, durch den Wahlgang ihre derzeitige Position wesentlich zu verändern. Die Volksfront will Berlinguer nicht riskieren, den „historischen Kompromiß“ lehnt die DC ab. So könnte es sein, daß die KP jetzt insgeheim auf die Spaltung der DC abzielt. Denn der linke Zungenschlag bei ganz anders gearteter praktischer Politik ist die Achillesferse der DC. Er macht ihren linken Flügel anfällig für die Sirenentöne der KP. Wenn die Aufstellung „unabhängiger“ katholischer Kandidaten auf der KP-Liste als Kristallisationspunkt für die Bildung einer neuen katholischen Linken im KP-Fahrwasser gemeint gewesen sein sollte, wird das massive Eingreifen der Kirche — bis hinauf zum Papst als Bischof von Rom — in den Wahlkampf verständlich. Denn eine Aufspaltung der DC würde die KPI zum tragenden Element des politischen Systems Italiens machen. Und.dann wäre die Alarmstimmung mehr als berechtigt.

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